Find Comfort in Discomfort

oder Regen in Rio.

Aktuelle Position: Ipanema Beach, Rio de Janeiro, Brasilien

In meinen dicken Wandersocken wanke ich durch den Gang des vollgestopften Flugzeugs zur Toilette und schnaube halb verächtlich, halb ärgerlich durch die Nase. Lufthansa – keine Spur von Freundlichkeit, Service und Sauberkeit. Die Stewardessen sind genervt und unterkühlt, Getränke gibt’s nur auf dringende Nachfrage und das Benutzen der Toilette ist eine kleine Herausforderung. Zurück auf meinem Sitz richte ich mich so bequem wie möglich ein, setze meine „Mickey Maus“ Kopfhörer auf, die mich von den Geräuschen um mich herum abkoppeln, schließe die Augen und freue mich auf meine Matcha Latte, die es bald geben wird. Instant Pulver und ein entsprechendes Gefäß habe ich dabei. Versuche, Komfort zu finden, auch wenn’s unangenehm ist! Sorge für Dich und bereite Dich vor. Das habe ich im Lauf der Jahre (nicht nur) auf Reisen gelernt.

Etwas gerädert erreichen wir Rio de Janeiro morgens um 5:00 Uhr. Nach einer unkomplizierten Einreise und einem kurzen Stopp am ATM (Geldautomaten) sitzen wir schnell im Uber und lassen die ersten Bilder der vorüberziehenden Stadt auf uns wirken. Ein gutes Ankommen ist für mich wichtig. Unser Appartment in Ipanema wartet erst ab dem Spätnachmittag auf uns und so verbringen wir den Tag mit Schwimmen & Relaxen in einem Hotel direkt am Meer. Doch zunächst genießen wir das fulminante Frühstücksbuffet. Für uns ist es gemäß deutscher Zeit bereits Mittag und so nehmen wir uns viel Zeit für all die leckeren, zum Teil fremden Speisen und vor allem für die frischen exotischen Früchte. Der lange Flug war unangenehm und anstrengend, da sind wir uns einig. Was für Alternativen gibt’s wohl? Mir fällt spontan eine Schiffspassage ein. Wie schön wäre das denn, durch die Karibik langsam nach Europa zu schippern? Diesbezüglich muss ich bei Gelegenheit unbedingt recherchieren. Der erste Tag endet früh, nachdem wir unser Mini-Appartment bezogen, ausgepackt und Lebensmittel eingekauft haben. In die Millionen-Metropole Rio werden wir morgen eintauchen.

Chili auf dem Wochenmarkt

Was für ein cooler Bossanova-Typ

Nach einer langen, erholsamen Nacht begrüßen wir den neuen Tag dank Jetlag sehr früh. In Rio wird es bereits gegen 4:30 Uhr hell, die ersten Jogger machen sich auf den Weg und um 6:00 Uhr öffnen Supermärkte, Bäckereien & Cafés. Ich mag diese Stadt jetzt schon! Nach einem Kaffee auf der Dachterrasse ziehen wir los, um herauszufinden, ob Rio wirklich die schönste Stadt der Welt ist. Nach ein paar Metern kommen wir zu einem Wochenmarkt, der uns mit seiner Lebendigkeit sofort in den Bann zieht. Um diese Uhrzeit sind nur Locals unterwegs und wir kaufen wie die Einheimischen ein Tapioka-Omelett an einem Stand und freuen uns, dass wir erneut allerlei uns unbekannte Früchte probieren dürfen. Danach lassen wir uns durch die gepflegten Straßen der beiden Nobel-Viertel Ipanema und Leblon treiben. An der Promenade und am Strand wird jede erdenkliche Art von Sport getrieben: Joggen, Radfahren, Volleyball, Footvolley, Beachtennis, Krafttraining und vieles mehr. Halb Rio scheint dort zu sein. Wir hingegen tauchen in den Regenwald der grünsten Metropole der Welt ein und wandern zum Aussichtspunkt „Dois Irmaos“.

Überall und zu jeder Zeit wird in Rio Sport getrieben

Mitten in der Metropole sind die Hühner auf der Straße

Gegen Mittag kehren wir in unser Appartment zurück, um uns etwas auszuruhen. Der Himmel verdunkelt sich mächtig und bald beginnt es zu regnen. Hm – Regen in Rio? Scheint da nicht immer die Sonne? Einige Zeit später sitzen wir fest, und zwar an einem traditionellen Quiosquo an der Copacabana. Während einer kurzen Regenpause haben wir euphorisch unsere trockene Bleibe verlassen und sind nicht weit gekommen. Mit anderen Touristen, Strandverkäufern und Einheimischen drängen wir uns unter den Sonnenschirmen zusammen, die keinen wirklichen Schutz vor Regen und Wind bieten. Es ist so dunkel, dass der Zuckerhut verschwindet, Meer und Himmel sind „one shade of grey“ und immer wieder radeln entspannte Surfer mit ihren Boards an uns vorbei. Ich male mir das Leben der Strandverkäufer aus, die notdürftig ihre Ware in Plastik verpacken. Wo und wie wohnen sie? Haben sie genügend zu essen? Sind sie zufrieden oder unglücklich? Was das Wetter angeht, so scheint es hoffnungslos – das wird heute nichts mehr. Durchgefroren und nass schnappen wir uns ein Taxi und lassen uns nach Hause bringen.

Und wieder heißt es: Find Comfort in Discomfort. Wir lümmeln im Bett herum, trinken Tee (!), widmen uns unserer Lektüre, nutzen den überdimensionalen Fernseher und gönnen uns nochmals eine Early Night.

„Bringt Regenschirme mit“ schreibt Ruma, die uns heute durch Rio führen wird. Wir haben eine Free Guided Walking Tour gebucht. Ein Konzept, das ich sehr mag. Locals führen Touristen durch ihre Stadt und jeder Teilnehmer gibt am Ende, was er kann oder als angemessen betrachtet. Regenschirme haben wir nicht, aber die Regenjacken sind dabei, als wir Ruma im Zentrum von Rio treffen. Aufgrund der Nebensaison – und vielleicht auch des schlechten Wetters – sind wir mit ihr alleine. Die kleine Carioca (so werden die Einwohner Rios genannt) führt uns souverän durch die historischen Straßen zur wunderschönen Treppe von Selaron. Mit all den bunten Kacheln ist dies ein Ort, den ich sofort liebe. Ruma schärft uns ein, dass wir NIE, NIE, NIEMALS nach 18:00 Uhr, vor 9:00 Uhr und sonntags in diesen Teil der Stadt gehen dürfen. Dann ist es dort menschenleer und täglich finden Raubüberfälle und Verbrechen statt. Wir stellen viele Fragen und erfahren allerlei Interessantes über die Stadt, ihre Geschichte, Einwohner und Traditionen. Eine weitere Station unserer Tour ist der Zuckerhut, auf welchen wir mit einer Bahn hochfahren. Leider ist es grau und richtig kalt, aber zumindest hat sich der Regen verzogen. Im Sommer leidet Rio unter Temperaturen von bis zu 45 Grad. Da bevorzuge ich für einen Stadtrundgang doch das aktuelle Wetter, auch wenn der Sonnenuntergang heute erneut ausfällt.

Bei der Selaron-Treppe

Blick auf die Lagune, Ipanema und das Meer

Sonne! Gemischt mit Wolken, aber immerhin sieht es deutlich freundlicher aus am Sonntagmorgen. Ich genieße das frühe Aufwachen, den ersten Kaffee auf unserer Dachterrasse sowie den freien Blick auf Cristo, der sich die Tage zuvor in dicken Nebel gehüllt hatte. Dort wandern wir heute hinauf! Was die Wanderung durch den Dschungel angeht, so sind die Informationen widersprüchlich. Einerseits wird auch hier vor Überfällen gewarnt, andererseits wird der Weg als wunderschön und ungefährlich beschrieben. Und nun? Solche Entscheidungen werden wir auf dieser Reise öfters treffen müssen. Meine Intuition sagt mir, dass wir die Wanderung machen können. Guido stimmt mir zu und so brechen wir wieder zeitig auf und wandern zunächst an der Lagoa, einer großen Binnenlagune mitten in Rio, entlang. Gestärkt von der ersten frischen Kokosnuss des Tages (die es hier für ca. 1 Euro pro Stück alle paar Meter zu kaufen gibt) nehmen wir die etwa 700 Höhenmeter in Angriff. Wir sind wachsam, sprechen wenig und als uns andere Wanderer sowie einige Trailrunner begegnen, sind wir beruhigt. Ohne Zwischenfälle kommen wir oben an und saugen das 360 Grad Panorama in uns auf. Abends steht ein weiteres Highlight auf dem Programm: Wir treffen uns mit einem Carioco, um das typische Essen Rios bei einer Bar- und Restaurant-Tour kennenzulernen. Das wird sensationell! Nach unserer Rückkehr von Cristo sitze ich fröstelnd in der Sonne auf der Dachterrasse und fühle mich gar nicht gut. Erstaunlich! Wie schnell sich der Zustand des Körpers manchmal verändert. Das Fieber steigt, der Hals schmerzt und es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auszuruhen – zumal ich für den nächsten Tag einen Tandemflug gebucht habe.

Cristo himself

Alle paar Meter findet sich ein alter Bulli

Und schon wieder ist es da: Find Comfort in Discomfort. Ich freue mich über die Möglichkeit, mir eine heiße Zitrone machen zu können und schlafe sofort ein, auch wenn mein Ego noch ein bisschen dem verpassten Abend nachtrauert.

Die Kraft ist zurück. Überglücklich und ohne Fieber springe ich am nächsten Morgen aus dem Bett. Der Kaffee schmeckt und Appetit habe ich, also ist alles gut. Das Uber bringt uns nach Sao Conrado, wo mein persönliches Rio-Highlight auf mich wartet: Ein Tandemflug mit einem Gleitschirm. Der Himmel ist blitzeblau, die Sonne blendet, das wird ein grandioser Tag. Ich schwebe über Rio. Zuckerhut, Cristo, Copacabana, Ipanema, die endlosen Strände, das saftige Grün des Dschungels, aber auch die immens großen Favelas (Armenviertel) liegen unter mir. Ich sauge diese Momente in mich auf und bin etwas traurig, als wir sicher auf dem Strand landen. Stundenlang hätte ich in der Luft bleiben wollen. Kurz nach Hause, die Badesachen holen und ab ans Meer! Mit klappernden Zähnen komme ich im Appartment an. Das Fieber ist zurück. Dieses Mal tobt mein Ego deutlich lauter: Du bist in Rio. Das ist der letzte Tag. Du musst an den Strand. Du musst zum Sonnenuntergang. Der Körper lächelt milde und weist das Ego in seine Schranken: Im Moment geht gar nichts!

Als Guido aufbricht, um den Sonnenuntergang vom berühmten Felsen Arpoador zu genießen, habe ich meinen Frieden mit der Situation gemacht. Morgen steht der Flug nach Patagonien an – zweimal in etwa vier Stunden mit Umsteigen in Santiago de Chile. Da sollte ich einigermaßen reisetüchtig und nicht gerade ein Zombie sein. Ich liege ruhig im Bett, die Hände auf dem Herzraum und entspanne mich, schlafen kann ich nicht. Um 17:30 Uhr geht ein Ruck durch meinen Körper. Ohne Nachzudenken stehe ich intuitiv auf, gehe ins Bad, mache mich frisch und bin zehn Minuten später am Strand. Was sich dort abspielt, ist magisch: Tausende von Menschen zelebrieren den Sonnenuntergang mit Live-Musik, Drinks und Snacks. Bis zum Felsen werde ich es nicht schaffen, bevor die Sonne im Meer versinkt und so bleibe ich in der Nähe eines Saxophon-Spielers stehen. Schon wieder Gänsehaut! Doch dieses Mal eindeutig aufgrund dieser einzigartigen Stimmung, Atmosphäre, Energie. Schlagartig wird mir klar: Wenn Du Deinen Tag am Meer beginnen und beenden kannst, innerhalb von wenigen Minuten zwischen Deiner Wohnung, Regenwald, Cafés, Strand und Gym hin- und herwechselst, dann hast Du eine andere Energie, einen anderen Beat in Dir als jemand, der die meiste Zeit des Tages im Büro, auf dem Sofa und in geschlossenen Räumen verbringt. Fast alle hier – ob jung, alt, arm, reich – sind entspannt, freundlich und wirken zufrieden. Mein Gleitschirm-Instructor Paulo wurde vor 64 Jahren in Rio geboren und hat als junger Mann Agrarwissenschaft studiert. Somit war ein Arbeitsplatz im Landesinneren fix. Doch er konnte nicht ohne seine Stadt leben und so kehrte er zurück, lernte innerhalb von 19 Tagen Gleitschirmfliegen und lebt nun sein „best life“.

Absprung auf der Drachenfliegerrampe

Magie pur!

Noch lange sitzen wir auf der warmen Mauer am Strand und genießen mit Bier und frischer Kokosnuss diesen einmaligen Abend. Auch ich kann mir sehr gut vorstellen, viele weitere Tage auf diese Art und Weise zu beenden. Und: Erstaunlich! Wie schnell sich der Zustand des Körpers manchmal verändert.

Mein Rio-Fazit:
Rio, Du hast mich in Deinen Bann gezogen. Noch nie habe ich eine so entspannte Metropole erlebt. Ich liebe den Lifestyle mit Sport, gesundem Essen und viel Natur inmitten der Stadt. Dein Herzschlag ist lebendig und ruhig zugleich. Ich spüre Offenheit, Toleranz und Akzeptanz. Von Deinen tausend Möglichkeiten konnten wir in der kurzen Zeit nur wenige erforschen. Sei Dir sicher: I will be back!

Von Herzen gerne hätte ich die Kommentarfunktion für die einzelnen Beiträge aktiviert, damit es ein Austausch und nicht nur ein Reisebericht wird. Leider ist das derzeit nicht möglich. Auch die Darstellung der Fotos entspricht nicht meinen Wünschen. Ich möchte Dir aber dennoch viele optische Eindrücke vermitteln. Falls Du Fragen hast oder mir etwas mitteilen möchtest, dann freue ich mich sehr darüber. Schreib mir einfach per E-Mail oder WhatsApp.