Das Ende der Welt

oder Alles eine Frage der Perspektive

Aktuelle Position: Cabana in der Pampa, Puerto Natales, Patagonien (Chile)

Immer weiter drängt mich der stürmische Wind vom Weg ab. Ich kämpfe, um aufrecht zu bleiben und weiß nicht, ob es Sinn macht, weiterzugehen. Vor wenigen Stunden habe ich – sicher und geschützt in unserer kleinen Cabana – am Frühstückstisch darüber geschmunzelt, dass im Nationalpark Torres del Peine ständig Wanderer „umgeweht“ werden und nun spüre ich die Urkraft der Natur am eigenen Leib. Beträgt die Windgeschwindigkeit mehr als 100 Stundenkilometer, dann wird der Weg zum Mirador de los Cuernos gesperrt. Heute sind es gerade mal schlappe 80 Stundenkilometer, die Nationalparkranger lächeln gelangweilt.

Dass in Patagonien ein anderer Wind weht, habe ich bereits auf dem Flug von Santiago de Chile nach Punta Arenas, der südlichsten Stadt der Welt, gespürt. Die Gesichter der Mitreisenden spiegeln die Abgeschiedenheit und Wildnis dieser Region wider. Ihr Körperbau ist ein völlig anderer als der der Cariocas in Rio de Janeiro. Meine Landung in Chile ist hart, obwohl das Flugzeug gegen Mitternacht sanft auf der Landbahn aufsetzt. Unser überaus freundlicher und kommunikativer Taxifahrer erklärt uns, dass für manche Punta Arenas das Ende, für andere der Anfang und wieder für andere der Nabel der Welt sei. Ich philosophiere innerlich mit und mir wird klar: Es ist – wie immer – eine Frage der Perspektive und sehr subjektiv. Dass dieser Gedanke mich durch die nächsten Tage tragen wird, ahne ich in diesem Moment nicht.

Ein erster Stadtrundgang am nächsten Morgen ist ernüchternd: Punta Arenas ist keine Schönheit. Obwohl die Sonne scheint, weht der Wind unablässig und böig. Der Klimawechsel macht mir nicht viel aus, der Sortimentswechsel im Supermarkt hingegen extrem viel. Wie im falschen Film komme ich mir vor, als wir durch die Gänge des „Unimart“ schlendern. Es gibt kaum frische Produkte, alles wirkt alt und gammlig. Da sich mein „Rio-Fieber“ in eine saftige Erkältung verwandelt hat und unser angemietetes Häuschen über eine gut ausgestattete Wohnküche verfügt, möchte ich etwas Warmes und Nahrhaftes kochen – aber mit diesen Produkten?! Unsere Suche nach Lebensmitteln führt uns in die kleine Markthalle am Hafen. Dort finden wir zwar nicht das, was wir suchen, aber dafür eine Handvoll uriger Fischrestaurants, in denen die Locals gerade ihren Mittagstisch einnehmen (um 14:30 Uhr). Spontan nehmen wir Platz, bestellen nach Gutdünken und werden mit riesengroßen Portionen Fisch überrascht – einfach und köstlich zubereitet. So mag ich das! Das Essen ist so reichhaltig, dass wir das Einkaufen auf morgen verschieben können.

Kurz vor dem Abheben

Ceviche in der kleinen Markthalle

Drei Tage sind wir in Punta Arenas und diese verlaufen ruhig. Ursprünglich wollten wir hier eine Exkursion zu den Magellan-Pinguinen unternehmen. Diese scheinen aktuell keine Lust auf Touristen zu haben und zeigen sich nicht. Wir haben ebenfalls keine Lust auf Pinguine. Meine Stimmung ist gedämpft. Anstatt zu hadern ändere ich meine Perspektive: Wie gut, dass wir uns hier ausruhen können, bevor es in die Nationalparks zum Wandern geht. Wie gut, dass unsere Bleibe warm und gemütlich ist. Wie gut, dass ich meine Yogamatte ausrollen kann und Zeit für meine Praxis habe. Auf solch einer langen Reise sind Phasen des Ausruhens und der Langeweile wichtig – das haben wir uns vorher bewusst gemacht. Nicht jede Station kann ein Highlight sein. Und wie soll Punta Arenas am Ende der Welt neben Rio de Janeiro bestehen?

Das fette Grinsen ist zurück, als ich in unseren dicken Pick-Up steige. Colt Sievers aus der gleichnamigen Serie war der Held meiner Kindheit. Seit diesen Tagen träume ich davon, mit einem Pick-Up zu schanzen…äh, zu fahren. Und das Schicksal hat uns diesen fast neuen Wagen in die Hände gespielt. Das Grinsen wird noch breiter, als ich unsere rustikale Cabana in den sogenannten „Hortas“, den Ausläufern von Puerto Natales sehe. Außen schwarzes Wellblech und rundum Pampa, innen Fußbodenheizung und geschmackvolle Einrichtung. Von hier aus werden wir den Nationalpark Torres del Peine, den größten Nationalparks Patagoniens, erkunden. Der zunehmende Tourismus macht auch vor dem Ende der Welt keinen Halt. Man übernachtet entweder für etwa 400 Euro pro Nacht direkt im Nationalpark und rechnet nochmals mit 100 Euro pro Tag für Essen und Trinken. Oder aber man sucht sich eine bezahlbare Bleibe im kleinen Ort am „Sin Esperanza Fjord“ und fährt jeden Tag insgesamt vier Stunden über Schotterpisten hin und zurück. Das ist unser Plan.

Pick-Up & Cabana! Yeah!

Innen warm & gemütlich

Nach einem ersten stürmischen, durchwachsenen Tag im Park strahlt am nächsten Morgen die Sonne vom klaren Himmel. Wind? Gab es hier jemals Wind? Wer nicht so strahlt, ist mein Mann. Die bei mir langsam abklingende Erkältung legt bei ihm gerade los und so freuen wir uns auf die nicht allzu anstrengende Katamaranfahrt zum Grey Gletscher. Das Panorama während unserer Anfahrt zum Park ist atemberaubend. Immer wieder halten wir an, um Fotos zu machen. Bevor wir um 13:00 Uhr an Bord gehen, bleibt noch Zeit für eine kleine Wanderung sowie ein paar erste Blicke auf den von hier aus recht beschaulich wirkenden Gletscher. Wie gut, dass ich bei zwanzig Grad im patagonischen Frühling meine Winterboots trage sowie im Tagesrucksack Daunenhandschuhe, Regenhose, Wollmütze und wärmende Zusatzkleidung herumschleppe. Unser Guide auf dem Katamaran bestätigt, dass dieser Tag eine Sensation ist. Gestern konnte aufgrund des Wetters kein Cruise stattfinden und heute tummeln sich die Passagiere zum Teil in Shorts auf dem Oberdeck in der Sonne. Mit einem „Calafate Sour“ inklusive Gletschereis, dem Welcome Drink an Bord, stossen wir auf Guidos heutigen Geburtstag an. Die Katamaranfahrt übertrifft unsere Erwartungen: Das Gletscherblau macht süchtig, wir fahren mit dem Boot nah an die drei Gletscherzungen heran und erfahren viel Wissenswertes von der kompetenten Crew. Jedes Mal, wenn der Katamaran sich etwas bewegt, ändert sich die Perspektive beim Betrachten des Gletschers, so dass die Zeit wie im Flug vergeht und wir uns nicht sattsehen können an diesem Naturwunder.

Die Rückfahrt hingegen zermürbt uns. Zwei Stunden über eine Schotterpiste nach einem langen Tag an der frischen Luft sind selbst mit dem tollsten Pick-Up der Welt zuviel. Schnell einmal die Perspektive gewechselt: Wie geil ist das denn bitte, dass ICH hier in Patagonien am Ende der Welt am Steuer von diesem Auto über die Pisten schanze? Obwohl das Geburtstagsessen im Restaurant hervorragend ist fehlt die Euphorie. Guido geht es nicht gut und auch ich bin müde. Da bleibt nur eines: Ab in die Cabana und abwarten, was der nächste Morgen bringt. Mit wenig Motivation und noch weniger Kraft machen wir uns am nächsten Tag auf den Weg. Die neunstündige Wanderung zur „Base de las Torres“ ist für uns heute definitiv nicht drin, da sind wir uns einig. Wir wählen eine sanfte Variante mit sechs Stunden Gehzeit entlang der Laguna Azul, während welcher wir die markanten Torres stets im Blick haben. Der Nationalpark Torres del Peine wurde 2013 zum achten Weltwunder gewählt. Seitdem sind sowohl die Besucherzahlen als auch die Preise explodiert. Ich bin dankbar und demütig, hier sein zu dürfen. Aber mein Herz berührt dieser Ort nicht.

Frühling im Nationalpark

Grey Gletscher

Es ist bereichernd und anstrengend zugleich, jeden Tag Neues zu erleben. Das sind manches Mal große Ereignisse wie die Katamarantour zum Glacier Grey, manches Mal kleine Dinge wie Einkaufen oder ein ungewohntes Auto zu fahren. Was zuhause ohne Nachdenken im „Autopilot-Modus“ funktioniert braucht auf Reisen viel Zeit und Energie: Wie funktioniert das Warmwasser, wo ist der nächste Supermarkt, wie öffnet man den Tankdeckel? Ausgeruht und gesund machen mir diese kleineren und größeren Herausforderungen Spaß, müde und erschöpft komme ich an meine Grenzen und bin schnell entmutigt. Ständig die Perspektive wechseln zu müssen und neue Eindrücke zu verarbeiten fordert den Geist ungemein. Dennoch möchte ich nicht tauschen, nicht zurück nach Hause. Zu verlockend ist das Unbekannte, zu verheißungsvoll die langen Tage mit Helligkeit von 5:00 bis 22:00 Uhr, zu interessant die fremden Kulturen und Bräuche, zu erfüllend die Begegnungen unterwegs.

Wie gehst Du mit herausfordernden Situationen um? Fällt es Dir leicht, die Perspektive zu wechseln? Kennst Du das Gefühl, auf Reisen angeschlagen oder krank zu sein? Was hilft Dir, wenn infolgedessen die Stimmung leidet oder Du von Deinen Plänen Abstand nehmen musst? Schreib mir! Ich freue mich über jede einzelne Nachricht.