Buenos Dias Argentina
… oder You live, you learn
Aktuelle Position: Internationaler Flughafen Buenos Aires, Argentinien
„Nimm! Uns! Mit! Biiitttttteee!“ Denke ich das nur oder schreie ich wirklich? In 15 Minuten fährt unser Bus am etwa fünf Kilometer entfernten Busbahnhof ab. Wir haben kein Uber bekommen, sind mit unseren Monster-Rucksäcken zur Hauptstraße gerannt und versuchen nun, einen Wagen zu stoppen. Sowohl die vorbeifahrenden Argentinier als auch Touristen in ihren Mietautos ignorieren uns höflich. In einer Hand halte ich mein Handy, mit dem ich immer noch versuche, ein Uber zu chartern, die andere Hand versucht verzweifelt, ein Auto zum Anhalten zu bewegen. Gerade als Guido meint, das war’s jetzt, wir schaffen es sowieso nicht mehr, hält ein Pick Up. Der seriöse, sehr ernste Graufuchs nimmt uns zumindest mit ins Zentrum. Ich kann ihn mit allem Flehen und Bitten nicht dazu bewegen, uns – gerne auch gegen Bezahlung – zum Busterminal zu fahren. Er setzt uns am Taxistand ab, wir hechten in den nächstbesten Wagen und erreichen in letzter Minute unseren Bus nach El Chaltén.
Kreislauf sowie Nervensystem sind nun hellwach und ich wiederhole meinen – mittlerweile schon abgedroschenen – Lieblingssatz der letzten Tage: You live, you learn. Künftig werden wir ein Uber oder Taxi am Abend vorher bestellen, wenn wir zum Busbahnhof oder Flughafen müssen. Bisher hatten wir immer innerhalb von fünf Minuten ein Uber bekommen, daher waren wir absolut sorglos. Sorglos oder vielleicht eher ahnungslos bin ich auch, was Argentinien betrifft. Da wir nur etwa zehn Tage in diesem Land sind, um weiterhin die Hot Spots von Patagonien zu bereisen, habe ich mich – ganz entgegen meiner Gewohnheiten – in keinster Weise im Vorfeld informiert. Nun darf ich staunen und lernen…
Auf den ersten Blick wirkt El Calafate deutlich moderner und gepflegter als die Städtchen im chilenischen Teil Patagoniens. Neugierig laufen wir am Ufer des türkis schimmernden Lago Argentino, dem größten See Argentiniens entlang, um unseren Mietwagen abzuholen. Bevor wir in den Nationalpark Los Glaciares fahren, um den nahegelegenen Gletscher Perito Moreno zu bestaunen, müssen wir noch etwas Bargeld abheben und ich brauche dringend neue Schuhe. In dem Glauben, dass es in dieser wilden Gegend eiskalt, stürmisch und nass sein wird, habe ich meine dicken Winterwanderstiefel eingepackt. Seit Tagen schon kochen meine Füße, da wir uns über 15 bis 20 Grad und Sonne freuen dürfen. Zudem sind diese geliebten, jahrelang getragenen Schuhe auf einmal unbequem und drücken. Während unserer kleinen Shopping- und Erledigungstour durch die Stadt bleibt uns gleich mehrmals die Spucke weg.
Fast überall in Südamerika kann man mit Kreditkarte bezahlen, sogar meine vom Strandhändler in Rio gekaufte Kokosnuss habe ich mit Karte bezahlt. Daher wollen wir maximal 50 Euro in argentinischen Pesos abheben. Die Währung verliert momentan schneller an Wert als man seine PIN eingeben kann. Der ATM (Geldautomat) verlangt schlappe 12 Euro Gebühr für die Transaktion! Nein, danke. Der nächste Weg führt uns in ein kleines Café. Wir wollen einen qualitativ guten Kaffee für die Zubereitung in unserer gemieteten Wohnung kaufen, da es in den Supermärkten nur Nescafé oder Kaffeepulver gemischt mit Zucker gibt. 250 Gramm kosten schlappe 29 Euro! Nein, danke. Mit Begeisterung erblicke ich in einem Sportladen genau die Schuhe, die ich mir vorgestellt habe: Trailrunners von Salomon. Seit Jahren bin ich mit solchen Schuhen in den Bergen unterwegs und weiß, dass ich gut damit zurechtkomme. Ich kenne den (deutschen) Preis und bin durchaus bereit, Geld auszugeben. Aber 300 Euro? Nein, danke.
Wir verschieben alles, was mit Geld zu tun hat, auf später und brechen auf, um der drittgrößten Eismasse der Welt so nahe wie möglich zu kommen. Die Fahrt entlang des Lago ist ein Genuss, die Farben des Wassers, der Pampa und der Berge unwirklich brilliant. Als wir um eine Kurve fahren stockt uns beiden der Atem: In seiner ganzen Pracht und in seinem immensen Ausmaß liegt der Perito Moreno vor uns. Genau diese Momente sind es, wofür sich das Reisen lohnt. Zum Glück kommt direkt ein Mirador (Aussichtspunkt), an dem wir anhalten und in aller Ruhe staunen können. Ein ausgeklügeltes System von „Laufstegen“ ermöglicht es den Besuchern, dem Gletscher sehr nahe zu sein und diesen von verschiedenen Seiten zu betrachten. Immer wieder hören wir einen archaischen Knall, wenn ein Teil der Eismasse abbricht. Der Perito Moreno kalbt. Einige Stunden verbringen wir vor Ort. Ich kann mich an den verschiedenen Blautönen einfach nicht sattsehen. Guido möchte das Kalben mit der Kamera einfangen, was fast unmöglich ist.
El Calafate wurde gebaut, um den Millionen von Touristen, die hierherströmen, eine Basis zu bieten und besteht aus Unterkünften, Shops, Touranbietern und Restaurants. Alles – wirklich alles – ist exorbitant teuer. Umso dankbarer sind wir, dass die Küche unserer Unterkunft gut ausgestattet ist. Wir kochen: Einmal gibt es Forelle aus dem See und ein anderes Mal ganz klassisch Kartoffeln, Spinat und Spiegelei. Natürlich besuchen wir auch einen argentinischen Asador, in dem Unmengen von Fleisch aller Art auf den Grill kommen. Ein Paar am Nebentisch kämpft mit dem bestellten Fleischberg und lässt sich letzten Endes die Hälfte zum Mitnehmen einpacken. Wir entscheiden uns daher für kleine, feine Fleischgerichte. Ich beobachte, dass wir während dieser Reise viel aufmerksamer sind und bewusster mit Geld umgehen als zuhause. Jede Kaufentscheidung wird überdacht. Das liegt zum einen daran, dass unsere Kapazitäten, etwas mitzunehmen, sehr begrenzt sind. Zum anderen möchten wir lieber in Erlebnisse und angenehme Unterkünfte investieren als in materielle Dinge oder kurzfristigen, überteuerten Genuss.
Dem Perito Moreno mit seinem Zauber können wir nicht widerstehen und wir besuchen ihn noch einmal. Ausnahmsweise klingelt der Wecker, so dass wir die ersten Besucher frühmorgens im Nationalpark sind. Ohne Menschenmassen und in vollkommener Stille liegt der Eisriese vor uns. Wir spüren, hören und beobachten, wie er lebt, tauchen ganz ein in dieses Wunder der Natur. Nach etwa zwei Stunden kommen all die prall gefüllten Touristenbusse an und die Magie verfliegt sofort. „Warum haben Menschen die Tendenz, ständig zu reden, laut zu sein, sich mitteilen und präsentieren zu müssen?“ frage ich mich. Meines Erachtens müsste an solch einem Ort eine Schweigepflicht sowie ein Verbot für Selfie-Sticks gelten. Würden dann weniger Besucher kommen? Somit auch weniger Dollar in die Kassen der Touranbieter, Restaurants, Shopbesitzer gespült werden? Die Welt funktioniert überall nach demselben Prinzip – ganz egal, ob Allgäu oder Patagonien.
El Chaltén verwöhnt uns: Mit langen Tagen voller Sonne und Wärme, atemberaubenden Wanderungen und anstrengenden Mountainbiketouren, einer komfortablen Cabana, guten Restaurants und einem entspannten Vibe. Der kleine Ort wurde 1985 gegründet und entwickelt sich seitdem rasant. Bergsteiger sowie Outdoor-Freaks aus aller Herren Länder werden von den beeindruckenden, sagenumwobenen Bergmassiven Cerro Torre und Fitz Roy angezogen. Von April bis Oktober sind die Lebensbedingungen so unwirtlich, dass El Chaltén sozusagen „schließt“ und niemand hier den patagonischen Winter verbringt. Unmut herrscht aktuell nicht nur bei vielen Besuchern, sondern vor allem bei den Locals. Seit Oktober diesen Jahres wird für den Nationalpark – also für jede Wanderung, Radtour, etc. – eine Eintrittsgebühr in Höhe von 45 Euro täglich verlangt. Viele Touristen bleiben weg, weniger Geld wird für Essen, Trinken, Einkaufen & Übernachten ausgegeben. Das Geld fließt direkt nach Buones Aires in die Kassen der Regierung und kommt in keinster Weise dem Nationalpark zugute.
Mittlerweile haben wir in Sachen Preise und Einkaufen unsere innere Haltung angepasst: Wir kaufen die Dinge, die notwendig sind und auf die wir Wert legen, ohne zu hadern. Immer vorausgesetzt, sie sind verfügbar. Hier gibt es keine regionalen oder lokalen Produkte, alles wird von weit her angeliefert. An manchen Tagen sind die kleinen Supermärkte leergefegt und ich feiere, dass ich die letzte Tüte Milch ergattere. Anstatt mit einer Vorstellung oder einem bestimmten Wunsch einkaufen zu gehen, ist hier Flexibilität und Offenheit gefragt. Schmunzelnd denke ich an die Texte der Yoga-Philosophie, die schon immer wussten, dass „Anhaftung Leid verursacht“ und verbanne das Bild von einem großen Salat kombiniert mit Fisch aus meinem Kopf. Stattdessen gibt es ein Omelette mit Tiefkühlgemüse. Mir wird bewusst, in was für einem Schlaraffenland wir zuhause leben und wie wählerisch wir oft sind. Zu meinem großen Erstaunen finde ich per Zufall die von mir herbeigesehnten Schuhe zu einem fairen Preis in einem gut sortierten Outdoor-Laden und bin froh, dass ich meine dicken Boots einer Argentinierin schenken kann, die sich unheimlich darüber freut. Das gibt hoffentlich eine Menge Punkte aufs Karma-Reise-Konto!
Die stürmischen Böen sind zurück. An unserem letzten Tag raubt uns der starke Wind den Atem, sobald wir das Haus verlassen. Somit wird es ein gemütlicher Abschied – mit Yoga, Kochen, Packen, Lesen und einem letzten Besuch im Café um die Ecke. Wir verzichten auf das Stück Kuchen für 13 Euro und freuen uns auf ein neues Kapitel unserer Reise: Morgen geht es in die Hauptstadt Chiles, nach Santiago. Adios Argentina!
Mein Patagonien-Fazit:
Der Zauber von Naturerlebnissen verfliegt, umso größer die Anzahl der anwesenden Menschen ist. Selbst um fünf Uhr morgens bewegt sich eine Karawane auf den Wanderwegen mühsam vorwärts. Auch wenn viele Fotos idyllisch erscheinen, so sind diese einfach geschickt aufgenommen und hinter mir befinden sich mindestens 100 weitere Human Beings. Wie überall auf der Welt schnellen die Preise unverhältnismäßig in die Höhe, sobald die Nachfrage entsprechend ist. Mutter Natur wird „verkauft“, der Mensch bereichert sich. Wäre es möglich, diesen faszinierenden Landstrich am südlichen Ende der Welt auf eine andere Art zu bereisen? Laut meiner Recherche nicht. Es gibt die erschlossenen, überlaufenen Regionen oder es gibt schlichtweg nichts – keine Straßen, kein Essen, keinerlei Infrastruktur. Natürlich bin ich – wie alle anderen Touristen – auch hierhergereist. Die Dimension des Tourismus war mir vorher nicht bewusst und hat sich anscheinend erst nach der Pandemie explosionsartig entwickelt.
Bist Du Dir der Fülle, in der wir leben, bewusst? Neigst Du dazu, an Deinen Vorstellungen und Wünschen festzuhalten oder kannst Du loslassen und offen sein? Wie geht es Dir, wenn Du auf etwas verzichten musst oder nicht das bekommst, was Du (unbedingt) möchtest?