Ich seh den Sternenhimmel
… ob das wohl vom Pisco kommt?
Aktuelle Position: Unbequemer Flugzeugsitz zwischen La Serena und Calama, Chilè
Ich atme ein, ich atme aus – inhaliere die frische Meeresluft und bewege mich leichtfüßig vorwärts. Wie habe ich das vermisst! Meine Laufrunde am frühen Morgen. Zuhause eine feste Gewohnheit, ein geliebtes Ritual von mir. Dabei geht es nicht um Kilometer, Tempo oder Leistung. In und mit der Natur sowie mit den Elementen zu sein tut mir gut. Die Monotonie der Bewegung entspannt mich – vor allem meinen Geist. Ich laufe das erste Mal auf dieser Reise. Meistens gestaltet es sich schwierig, in einer fremden Umgebung eine Laufrunde zu finden. Ich möchte kein Handy dabeihaben und ständig meine Route prüfen. In Südamerika gibt es – anders als bei uns – wenig Gehwege (Bürgersteige) und Trampelpfade oder Wanderwege enden oft nach einigen Metern an einem Zaun. Hier an der Küste in La Serena findet sich eine Strecke entlang am Meer. Die Umgebung ist ein Abbild von Palma de Mallorca oder besser gesagt von El Arenal – dem Ballermann. Eine üble Kneipe nach der nächsten, der Strand wenig einladend, die Umgebung verwahrlost und vermüllt. Der Reiseführer beschreibt diese Szenerie als „kleinen, entspannten Badeort mit viel Charme“?! Ich bin froh, dass wir hier nur eine Nacht verbringen, um in Kürze unseren Mietwagen abzuholen. Dennoch genieße ich das Laufen in vollen Zügen und kehre gut gelaunt in unser Mini-Appartment zurück, um mich mal wieder reisefertig zu machen.
Ein fast nagelneuer Hyundai bringt uns zügig aus dem „paradiesischen Badeort“ ins Landesinnere, nachdem wir uns im Supermarkt mit Lebensmitteln und in einem Fischladen mit leckerer Céviche eingedeckt haben. Mittlerweile sind wir mit den Einkaufsmöglichkeiten in Chile vertraut und wissen, dass in kleinen Orten das Angebot sehr begrenzt und in touristischen Gegenden banale Dinge überteuert sind. Wir haben „gelernt“, das es Sinn macht, einen Spülschwamm zu kaufen, denn meistens erwartet uns ein leckeres, benutztes Exemplar in der neuen Bleibe. Seltsamerweise trinken die Chilenen fast ausschließlich Nescafé, obwohl sie von kaffeeproduzierenden Ländern umgeben sind. Somit ist es immer wieder eine Überrachung, ob und wie wir Kaffee zubereiten können. Auch dieses Mal finden wir in unserer rustikalen, von einer Künstlerin einst liebevoll gestalteten und mittlerweile sehr verlotterten Cabana keine Kaffeemaschine und kontaktieren unseren Ansprechpartner Francisco mit dem Anliegen. Dieser bombardiert mich seit ein paar Stunden mit WhatsApp-Informationen aller Art: Wegbeschreibung zur Cabana, Wegbeschreibung von der Cabana in die kleine Stadt Vicuna, Tipps für Restaurants, Ausflüge, Sehenswürdigkeiten, Kennung für das nichtfunktionierende W-Lan und einiges mehr. Gerne hilft er uns mit einem italienischen Espresso-Kocher aus, der garantiert älter ist als ich. Wir sind zufrieden und packen unseren kleinen „Haushalt“, der sich mittlerweile angesammelt und bewährt hat, in der eingestaubten Küche aus: Ein scharfes Messer (mit dem ich mir beim ersten Benutzen einen sauberen Schnitt in den Daumen gezogen habe), ein Bambus-Teller, ein Milchaufschäumer, ein großer Emaille-Becher und eine „Küchenrolle“.
Nach getaner Arbeit erkunden wir die naheliegende Stadt und sind verzückt, weil alles überschaubar, entspannt und ursprünglich ist. Wir sind im Valle Elqui, einem sonnenverwöhnten Tal, das vor allem für die Produktion des chilenischen Nationalgetränks Pisco sowie für optimale Bedingungen in Sachen Astronomie bekannt ist. Der kleine Marktplatz erstrahlt in weihnachtlichem Glanz, das Wahrzeichen von Vicuna – der Torre Bauer – wird von der Abendsonne angestrahlt und wir mischen uns unter die Locals, die über den Weihnachtsmarkt schlendern. Das Abendessen fällt angesichts eines riesengroßen Eisbechers aus. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass hier zwei Kugeln in etwa ein halber Liter Eis sind. Die Energie dieser kleinen Kalorienbombe wird uns am Folgetag bei unserer Erkundungstour mit dem Fahrrad zugute kommen. Adeline, eine Französin, die mittlerweile seit 14 Jahren hier lebt, empfängt uns überaus herzlich und erklärt uns, welche Strecke wir fahren können und was es zu erleben gibt. Leicht übernächtigt sind wir, da unser Gastgeber Francisco die halbe Nacht bemüht war, uns Zugang zum nicht funktionierenden W-Lan zu verschaffen. Alle halbe Stunde hat er mit einem neuen Lösungsansatz an die morsche Tür unserer Cabana geklopft, bis wir ihm deutlich klar gemacht haben, dass wir die Nacht ohne W-Lan überleben werden. Obwohl es sehr schnell sehr warm wird sind wir den ganzen Tag mit den Bikes unterwegs: Wir dürfen an einer kostenlosen Tour samt Verkostung bei einer kleinen Pisco-Destillerie teilnehmen, kehren bei den „Hare Krishnas“ zum kostenlosen Mittagstisch ein und kaufen hausgemachtes Eis bei einer 80jährigen Dame an ihrer Haustür. Zur abends gebuchten Sternenbeobachtung brechen wir bewusst früh auf, damit uns die Müdigkeit nicht zu sehr überkommt. In einer kleinen Gruppe erforschen wir die Planeten durchs Teleskop. Der Sternenhimmel ist hier bereits mit bloßem Auge überwältigend, aber der gestochen scharfe Anblick von Saturn und Mond unbeschreiblich.
Das Landschaftsbild des Tals ist außergewöhnlich: Karge Berge, bewachsen mit Kakteen rahmen den Talboden ein, der durchgehend mit Reben, Orangenbäumen und Avocadopflanzen bewachsen ist. Ein Teil der Trauben wird vor Ort zu Pisco und Wein verarbeitet, der andere Teil wird exportiert – ebenso die Orangen und Avocados. Eine Wanderung führt uns auf staubtrockenen Pfaden hinauf zu einem Mirador. Obwohl es früh am Tag ist brennt die Sonne erbarmungslos, die Nacht war mit etwa 12 Grad angenehm kühl. Ein älterer, sonnengegerbter Mann mit schwarzen Handschuhen, einem langen Stab und einem großen Eimer kommt uns entgegen. Stolz berichtet er uns, dass er mit seinen 75 Jahren jeden Morgen diesen Berg besteigt, um „Copao“ – Kaktusfrüchte – zu ernten. Anschließend verkauft er diese unten im Ort vor dem Museum. Wir erwerben direkt vier Stück für einen Euro und sind gespannt auf diese uns unbekannte Delikatesse. Google verrät mir, dass Copao nur in sehr wenigen Gegenden unserer Welt gedeiht. Beim Aufschneiden erinnert sie an Pitahaya – weißes, saftiges Fruchtfleisch mit kleinen schwarzen Samen, der Geschmack ist erfrischend-säuerlich, die Konsistenz angenehm weich. Kein Wunder, dass Copao zu Saft und Eiscreme verarbeitet und ebenso für das Mixen von Pisco Sour verwendet wird. Wir staunen, als uns direkt am Pool unserer nächsten Unterkunft weiter hinten im Tal ein ebensolcher Pisco Sour serviert wird. Zufällig sind wir in einem kleinen, feinen Resort gelandet und wie bereits in unserer letzten Unterkunft die einzigen Gäste. Unsere Gastgeberin Claudia erklärt uns, dass die Chilenen vor Weihnachten kaum reisen. Genau wie in Deutschland sind alle mit den Vorbereitungen aufs große Fest sowie dem Schuljahresende beschäftigt. Nach Weihnachten wird die Hölle los sein – Chile startet in die „großen Ferien“. In vollen Zügen genießen wir die Ruhe, die Sauberkeit, den Pool und verbringen die Tage mit morgendlichen Fahrrad- und Erkundungstouren sowie die Nachmittage mit Schwimmen und Faulenzen. Im magischen Valle Elqui haben sich viele spirituelle, alternativ lebende Menschen niedergelassen und so finden wir eine wundervolle Stupa, einen Tempel sowie viele Meditationsplätze. Abends verfolgen wir von unserer Terrasse aus, wie sich sekündlich die Verfärbung und Schattierung der Berge ändert, bevor eine Milliarde Sterne glasklar und funkelnd am Himmel erstrahlen. Ich schlafe seit langem wieder einmal ein paar Nächte in Folge tief und fest. Meine Morgenroutine auf der Yogamatte findet an der frischen Luft statt, begleitet vom Singen der Vögel, umgeben vom saftigen Grün der Bäume und leuchtenden Blüten. In dem Baum vor unserem Haus hat ein kleiner Kolibri sein Nest gebaut, er begleitet uns durch die Tage, genauso wie Claudias angenehme Art.
Wie so oft beim Reisen regt uns dieses Tal zum Nachdenken an. Wir nehmen eine Frau im Auto mit, die hier geboren und aufgewachsen ist. In jungen Jahren hat sie Südamerika verlassen und etwa vierzehn Jahre in Spanien und Italien gelebt. Vor einiger Zeit ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt und nicht erfreut über die Entwicklungen hier: Wo früher eine Vielfalt an Obst und Gemüse beheimatet war, werden aktuell nur Trauben angebaut. Pestizide kommen zum Einsatz, das Wasser wird knapp. Auch uns irritieren die riesigen, zum Teil mit Plastikfolie überdachten Plantagen. Früher kostete eine Avocado im Laden um die Ecke zehn Cent, heute zwei bis drei Euro. Mehr und mehr Unterkünfte werden gebaut, das Preisniveau in allen Bereichen steigt mit jedem Tourist, der anreist. In der Hauptsaison platzt das Tal aus allen Nähten, die einzige Straße ist verstopft, immer mehr Attraktionen und Touren sollen für die Besucher geschaffen werden. Wir erleben in diesen Tagen das Gegenteil: Vieles ist geschlossen, uns begegnen zum großen Teil Locals, alles ist ruhig und beschaulich. Die kleinen Weihnachtsmärkte locken uns immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht: An den Ständen werden gehäkelte Blumen, gebrauchte Haushaltsgegenstände, Marmelade und billiges Parfum verkauft. Wir spüren die festliche Stimmung der Anwohner, die aufgeregt eine Darbietung der Schülerinnen auf dem kleinen Platz vor der Kirche verfolgen. Es ist 20:00 Uhr abends, taghell und das Thermometer zeigt 24 Grad. Interessant, wie sehr der Mensch von seiner Herkunft geprägt ist: Vermutlich verbindet jeder Deutsche Weihnachten mit Kälte, Dunkelheit, warmen Getränken sowie mit dem Wunsch nach „weißer Weihnacht“. Ich bin jedenfalls (noch) nicht in Weihnachtsstimmung, da die äußeren Bedingungen meinem Geist und meinen Sinnen die Situation „Hochsommer“ vermitteln.
„In wie vielen verschiedenen Betten werde ich auf dieser Reise wohl schlafen?“ frage ich mich, als wir schweren Herzens unsere Rucksäcke packen und Claudias kleines Paradies verlassen. Wir kehren für zwei Nächte nach Vicuna zurück, weil uns diese Stadt und ihre Einwohner ans Herz gewachsen sind. Ich leihe mir noch einmal ein Fahrrad bei Adeline und kämpfe endlose 65 Kilometer lang gegen den Wind beim „Downhillen“ vom Talende aus. Guido besucht die kleine Brauerei und freut sich über die ausgezeichneten Craftbiere. Am letzten Abend reihen wir uns in die lange Warteschlange vor Vicunas Gemeindesaal ein, um an der kostenfreien „A Tribute to Pink Floyd“-Show teilzuhaben. Während direkt neben uns der Kunstrasen rund um den Weihnachtsbaum und die Krippe säuberlich verklebt wird, beobachten wir die bis ins Detail perfektionierte Abwicklung der Veranstaltung. Es werden immer exakt zwanzig Personen in den Saal gelassen. Wenn diese ihren Platz eingenommen haben, folgt der nächste Einlass. Platzanweiser sorgen dafür, dass alles ruhig und geordnet abläuft. Um 20:00 Uhr soll das Spektakel beginnen, aber nur „wenn bis dahin das Konsumieren von Marihuana eingestellt wird“, so die klare Ansage der Dame am Mikrophon. Einige Minuten später lässt der zarte Duft nach und es geht los. Wir sind positiv überrascht: Die Band ist exzellent, das Publikum gibt alles und trotzdem fallen mir fast die Augen zu – Radfahren, Sonne & Wind fordern ihren Tribut.
„Wo ein Baum zu pflanzen ist, pflanze Du ihn. Wo ein Fehler zu tilgen ist, tilge Du ihn. Wo es eine Anstrengung gibt, der alle ausweichen, nimm Du sie auf Dich. Sei Du derjenige, der den Stein aus dem Weg räumt.“ Dieses wundervolle Zitat ist mir auf der Treppe eines Kindergartens im Valle Elqui begegnet und hat mich berührt. Es stammt von der chilenischen Poetin Gabriela Mistral, die in dieser Gegend gelebt hat. Noch nie habe ich ihren Namen gehört, in Südamerika ist sie eine Ikone. Wiederholt fällt mir auf, wie sehr wir von unserer Herkunft, unserer Kultur und der Gesellschaft, in der wir leben, geprägt sind. Wie klein unser Wissensschatz ist, wie eng unser Radius, wie begrenzt unser Horizont. Wie sehr sind Deine Werte, Deine Gedanken, Deine Handlungen von der deutschen Kultur beeinflusst? Wann hast Du das letzte Mal Deinen Radius und Horizont erweitert?