Wenn alles um mich herum sein darf…

… so wie es ist

Aktuelle Position: Staubiger Hinterhof in der Atacama-Wüste, Chile

Ich will meine Eindrücke aufschreiben, bevor sie verblassen. Das Schreiben tut mir gut. Ich dokumentiere damit nicht nur unsere Reise, sondern ich kann das Erlebte reflektieren und nochmals aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Es sind nicht die großen Attraktionen und Sehenswürdigkeiten, die unsere Reise prägen – vielmehr sind es alltägliche Dinge, individuelle Orte, überraschende Entdeckungen und immer wieder die Begegnungen mit anderen Menschen. Das Reisen lässt mich lernen und demütig werden – deutlich mehr, als es zuhause jemals möglich wäre. Es strengt mich an und schenkt mir neue Energie. Was das Wichtigste ist: Ich fühle mich lebendig. Die Gegebenheiten anzunehmen, wie sie sind, ist eine ständige Übung. Ich kann mich innerlich an Dingen aufreiben, die ich nicht ändern kann oder ich bleibe gelassen und akzeptiere sie und finde die positiven Aspekte der Situation. So auch an unserem Reisetag – ein Tag des Wartens: Wir warten endlos bei der Rückgabe des Mietwagens, stehen in der langen Schlange am Check-In, warten auf das Einsteigen ins Flugzeug, um dann bei unserer Ankunft nochmals am Mietwagenschalter auszuharren. Ich nutze die Zeit zum Schreiben und so fällt es mir leicht, diesen Zustand anzunehmen. Natürlich macht der Mietwagen Probleme. Wir müssen uns erst wieder an das neue Auto und seine Funktionen gewöhnen, bevor wir einen Supermarkt ansteuern, um groß einzukaufen. Die Wüste wartet auf uns – genauer gesagt die trockenste Wüste der Welt. Es ist fast Abend, als wir mit dem vollgepackten SUV an unserer Unterkunft ankommen. Sind wir am Anfang unserer Reise noch jedes Mal zusammengezuckt, wenn uns Google Maps auf eine „Dirt Road“ – eine Piste – geschickt hat, so wissen wir mittlerweile, dass dies in Chile ganz normal ist. Gut durchgeschüttelt erreichen wir das Tor zu unserem kleinen Refugium, welches aus Bambusrohren besteht und schief in den Angeln hängt. Domingo – unser Gastgeber – erwartet uns und weist uns an, das „tolle Auto“ auf dem Grundstück zu parken. Dann führt er uns zu unserem Zuhause für die nächsten sieben Tage und Nächte.

Das Tor zu unserer Unterkunft

Living the simple life

Bei mir stellt sich sofort ein vertrautes Gefühl ein, das ich sehr gut von meinen Reisen mit unserem VW-Bus kenne. Wir werden in einem Lehmhaus schlafen, das ein langer Schlauch ist. Gerade mal zwei separate Betten, eine kleine Kommode und ein Regal finden darin Platz. Alles andere wird im Freien stattfinden. Wir haben einen kleinen, privaten „Hinterhof“ mit einem Camping-Gasherd, einem Mini-Kühlschrank, Tisch und Stühlen sowie einer Hängematte. Extrem spartanisch wirkt alles, der Wüstenstaub setzt sich in jeder noch so kleinsten Ritze fest, und trotzdem fühlt es sich für mich in diesem Moment gut an. Guido benötigt etwas Zeit, um sich auf die unerwartete Situation einzustellen. Ich checke die Küchenutensilien und stelle fest, dass kaum etwas vorhanden ist. Sofort wende ich ein weiteres „Learning“ der vergangenen Wochen an: Ich frage Domingo nach den Dingen, die ich vermisse und erhalte die gewünschte Schüssel sowie einen Topf. Woher soll er wissen, was wir benötigen? Zu Beginn der Reise habe ich meistens gezögert, wenn es darum ging, um etwas zu bitten und habe mich innerlich geärgert sowie gehadert. Fragen kostet auch in Chile nichts und ich habe die Möglichkeit, die Situation zum Positiven zu verändern. Gebucht habe ich dieses etwas außergewöhnliche AirBnB aus drei Gründen: Hotels und „bessere“ Unterkünfte sind in der Atacama-Wüste unbezahlbar, das kleine Häuschen ist bei AirBnB mit fünf Sternen bewertet und wir haben zwei Fahrräder inklusive. Alleine sind wir nicht. Domingo lebt mit seiner Familie im Haus nebenan. Zudem gibt es drei weitere Unterkünfte auf dem Gelände: Zwei Häuser und einen alten Camper. Direkt nach unserer Ankunft kommt eine Nachbarin vorbei und wir können den von ihr hergestellten Ziegenkäse kaufen. Wir teilen uns den halben Laib mit zwei Thailänderinnen, die eines der Häuser gemietet haben. In diesem Moment kehrt ein junges Paar mit den inkludierten Fahrrädern zurück und Guido stellt fest, dass die Bikes im Prinzip „untauglich“ sind: Bremsen und Gangschaltung funktionieren nicht, die Reifen sind abgefahren und vermutlich löst sich bald der Rahmen auf. Für eine Spazierfahrt in die naheliegende Kleinstadt mag das gehen, aber nicht für längere Touren. Immer wieder fällt uns in Chile auf, dass die Menschen sich nicht um ihr Hab und Gut kümmern: Häuser verwahrlosen, Fahrräder werden nicht gewartet, Kaputtes wird nicht repariert. An was das liegen mag?

Mit den Schrott-Bikes unterwegs

Sandtrails machen Laune

Trotzdem starten wir am nächsten Morgen nach einer ruhigen, ersten Nacht mit den maroden Bikes in die „Teufelsschlucht“. Wir haben ein Patagonien-Dejavue: Für jede noch so kleine „Attraktion“ wird in der Atacama die Hand aufgehalten und unverhältnismäßig viel Geld verlangt. Damit wir den kurzen Trail in der Schlucht fahren dürfen, bezahlen wir für zwei Personen zehn Euro. Guidos Laune ist mäßig, da sein Fahrrad nur im allerhöchsten Gang zu fahren ist. Die Sonne brennt und wir befinden uns auf 2.500 Metern Höhe, was der Situation nicht zuträglich ist. Ich hatte in keinster Weise damit gerechnet, dass ich in Chile so viel radfahren werde und muss über mich selbst schmunzeln, als ich mit rasendem Puls einen Sandtrail hinutersause, wohl wissend, dass meine Bremsen nichts hergeben. Als wir zu Fuß einen „Mirador“ – einen Aussichtspunkt – erklimmen, sind wir schnell außer Atem. Nicht nur die Höhe macht sich bemerkbar, auch die extrem trockene Luft erschwert alles. In jedem Schuh befindet sich ein halbes Kilo Sand und wenn wir einen Schritt vorwärts machen, rutschen wir gefühlt zwei zurück.

Meinem Körper macht die Wüste zu schaffen. Dank Ayurveda weiß ich, wie ungünstig Trockenheit, Hitze und Wind für den Organismus sind – nun spüre ich es am eigenen Leib. Die Bedingungen hier sind extrem: Nachts sinken die Temperaturen unter zehn Grad, während sie tagsüber dreißig erreichen. Bei unseren Ausflügen bewegen wir uns auf einer Höhe zwischen 2.500 und 4.500 Metern, die Sonneneinstrahlung ist enorm. Gegen Abend frischt der Wind auf, die Böen treiben Sand und Staub durch die Luft. Meine Schleimhäute trocknen komplett aus, die Nase blutet, die Lippen sind rau und rissig, die Augen rot und geschwollen. Da hilft alles cremen, pflegen und trinken nichts. In dem Wissen, dass dieser Zustand sich mit dem Verlassen der Atacama verändern wird, kann ich ihn akzeptieren. Es darf so sein, wie es im Moment ist. Tief inhaliere ich die kühle Morgenluft, wenn ich in der Dämmerung im Hinterhof meine Yogamatte ausrolle und sowohl das Zwitschern der Vögel als auch eine Million Sterne mich durch meine Yogapraxis begleiten. Dieser morgendliche „Check In“ bei und mit mir selbst, diese Zeit für mich alleine ist wichtig. Sie schenkt mir Ruhe und Kraft. Nun mag sich manch einer denken: Wie pedantisch kann man sein, dass man auf so einer Reise morgens die Yogamatte ausrollt? Eine Kollegin von mir hat es auf den Punkt gebracht: Wenn ich reise, dann höre ich auch nicht damit auf, meine Zähne zu putzen. Warum also soll ich meine Yogapraxis einstellen und somit Körper und Geist vernachlässigen?

Valle de la Luna

Hier grillt der Chef persönlich

Am nächsten Tag leihen wir uns moderne, funktionierende, gut gepflegte Mountainbikes in der Stadt. Davor haben wir eine Lagune mit Flamingos auf 3.500 Metern Höhe besucht und anschließend einen blühenden Canyon durchwandert, in dessen Wildbach sich immer wieder kleine Gumpen zum Baden finden. Nach einigen Recherchen und mithilfe Domingos Unterstützung haben wir wunderschöne, kostenfreie Plätze und Aktivitäten gefunden, die zudem nicht überlaufen sind. Die Mehrheit der unzähligen Touristen aus aller Welt lässt sich mit Minibussen von einem Hot Spot zum nächsten fahren. Abends treffen sich all diese Minibusse samt Insassen auf einer großen, kahlen, nicht besonders schönen Fläche, um dort den Tag mit einem Pisco Sour abzuschließen. Wir flitzen mit den neuen Bikes vorbei und genießen den Sonnenuntergang ganz alleine auf einem Hügel unweit unserer Bleibe. Natürlich besuchen auch wir die ein oder andere Attraktion, wie das „Valle de la Luna“. Mit den Fahrrädern geht es über die staubige Piste, wir besteigen die Dünen und sind tief beeindruckt von dieser unbeschreiblichen, weltweit einmaligen Landschaft. Morgens auf dem Hinweg haben wir eine dicke Gänsehaut und frieren, während wir bei unserer Rückkehr um die Mittagszeit fast verbrennen. Da hilft nur die Flucht in eines der wenigen Restaurants, die den Locals geblieben sind. Im Zentrum reiht sich eine Gastronomie an die andere. Unsympathische „Marktschreier“ werben mit ihrem „Menu del Dia“, dem Tagesessen. Im Internet erfährt man, dass sowohl Geschmack als auch Qualität zu wünschen übrig lassen. Wir bevorzugen es, mit den Einheimischen zu speisen – auch wenn das Interieur nicht so schick, das Menü nicht so „fancy“ ist. Die Portionen sind groß, die Gerichte ehrlich gekocht und die Preise mehr als in Ordnung. Jedes Essen wird von lauter Musik begleitet. Entweder läuft der Fernseher oder eine große Box spielt die neuesten chilenischen Hits. Wir können uns kaum halten vor Lachen, als wir zum ersten Mal die Musikvideos sehen. Mag Chile noch so westlich wirken, diese Bilder sind unglaublich.

Canyon mit Wildbach

Pink Flamingo

Eine Ausfahrt mit unserem Mietwagen führt uns auf eine Höhe von 4.500 Metern. Ich spüre, wie mein Körper reagiert: Der Herzschlag beschleunigt, der Atem wird schneller. Wenn ich in die Hocke gehe und wieder aufstehe, wird mir etwas schwindlig. Vorbei an Vulkanen, die etwa 6.000 Meter hoch sind, fahren wir zu Salzlagunen und beobachten Lamas, Vicunas und erneut Flamingos. Es ist unglaublich still. „Man kann die Stille der Wüste hören.“ hat Domingo gesagt. Ich weiß, was er meint. Abends schmeißen wir gemeinsam mit unseren Nachbarn aus Holland den Grill an und freuen uns über den regen Austausch mit ihnen. Wir schmunzeln: Sie haben noch nie gegrillt und außer Lachsfilet panierte Chicken Nuggets für das Barbecue eingekauft. Am letzten Tag unseres Aufenthalts würden wir gerne in den bekannten Salzlagunen nahe San Pedro baden. Die Tickets müssen – wie so oft – im Vorfeld online gekauft werden. Der Aufenthalt ist auf eine Stunde begrenzt und kostet pro Person 18 Euro. Den halben Nachmittag versucht Guido vergeblich, Tickets zu kaufen. Absurde Fehlermeldungen erscheinen und auch ich habe kein Glück. Der Eindruck, dass Individualtourismus hier nicht erwünscht ist, verstärkt sich mehr und mehr. Es finden sich kaum zuverlässige Informationen, viele Zeitfenster beim Besuch der umliegenden Attraktionen sind für Touranbieter reserviert und die Hilfsbereitschaft sowie die Freundlichkeit der Locals lässt zu wünschen übrig. Wir geben auf, akzeptieren die Situation und verbringen unseren letzten Tag nochmals im Canyon mit einer langen Wanderung und einem ausgiebigen Badestopp. Unablässig sprudelt das klare Wasser des Wildbachs. Zum ersten Mal begreife ich auf einer tiefen Ebene, was „nie versiegende Quelle“ bedeutet. Das Sein in der Natur, die Verbindung mit den Elementen, das natürliche Bewegen tut uns gut. Mein Körper fühlt sich warm und geschmeidig an, der Geist ist ruhig und entspannt. Ich kann es mir kaum vorstellen, dass in vier Tagen Heilig Abend ist und sicherlich viele Menschen in der Heimat gestresst und angespannt sind. Alles um mich herum darf so sein, wie es ist. Nicht ständig optimieren, verändern und innerlich diskutieren zu müssen spart Energie, Hirnschmalz und Nerven.

Cactus Valley

Sonnenuntergang in der Atacama

Unsere spartanische Unterkunft stellt die innere Gelassenheit immer wieder auf die Probe. Nachts fallen kleine Tierchen von der Zimmerdecke auf mich herab, die Toilettenspülung versagt und Guido muss selbst Hand anlegen. Mal wieder darf ich das Duschen und Haare waschen mit kaltem Wasser üben, weil der Boiler nicht funktioniert und die wilden Hunde hinterlassen riesige Haufen in unserem Hinterhof. Domingo ist mit seiner Familie verreist und so sind wir mit sämtlichen Herausforderungen uns selbst überlassen. Erstaunlicherweise schlafen wir trotz allen Widrigkeiten gut, auch wenn mich lebhafte Träume umtreiben. Eines Morgens werde ich bei meiner kurzen Laufrunde von drei wilden Hunden angegriffen. Scheinbar aus dem Nichts tauchen sie auf und verfolgen mich mit aggressivem Bellen. Ich bleibe stehen, schreie sie an und versuche, sie mit einer resoluten Geste einzuschüchtern. Zwei drehen mit eingezogenem Schwanz ab, der dritte tut so, als ob und erwischt mich am Knie, als ich weiterlaufe. Zum Glück ist es nur eine oberflächliche Wunde. Überall in Chile finden sich Unmengen herrenloser Hunde, Tretmienen pflastern die Straßen und Wege allerorts. Auch ein Umstand, den wir nicht ändern können und wohl oder übel akzeptieren müssen.

Wir sind nicht traurig, als unsere Zeit in der Wüste zu Ende geht. Zu karg, zu staubig und trocken war es für uns, zu lieblos und verwahrlost die Unterkunft. Alles darf so sein, wie es ist. Nicht jede Etappe der Reise muss uns begeistern. Wir wissen nun, dass wir im weiteren Verlauf keine karge Gegend, keine Wüste mehr ansteuern werden. Ein kurzer Stopp-Over in Santiago de Chile und ein etwas längerer Flug führen uns in ein neues Land, in ein komplett anderes Klima und in die dritthöchstgelegene Hauptstadt der Welt, in der wir die Weihnachtstage verbringen werden.

Kannst Du Situationen annehmen, auch wenn sie nicht Deinen Vorstellungen entsprechen? Darf alles so sein, wie es ist – oder reibst Du Dich innerlich auf und versuchst krampfhaft, Dinge und eventuell sogar Menschen zu ändern?  Vielleicht kann es gerade an den Weihnachtstagen von Vorteil sein, nicht alles optimieren und perfektionieren zu wollen? Gibt es eine tägliche Routine, die Dir hilft, Dich selbst wahrzunehmen, die Dir Ruhe und Klarheit schenkt? Wäre das eine Bereicherung in Deinem neuen Jahr?