Stille Nacht, heilige Nacht

… oder Weihnachten in Bogotá

Aktuelle Position: Im Bus von Bogotá nach Armenia, Kolumbien

„Sei stark und mutig. Erschrick nicht und fürchte Dich nicht! Denn mit Dir ist der Herr, Dein Gott, wohin Du auch gehst.“ Dieser Psalm von Joshua prangt in großen Lettern direkt vor mir. Ich sitze in der ersten Reihe des Palmero Express Busses nach Armenia und bin mir nicht schlüssig, ob mich dieses Statement beruhigen oder eher beunruhigen soll. Wilde Geschichten haben wir von den Busfahrten in Kolumbien gehört: Halsbrecherische Fahrweise, Totalausfälle oder große Pannen, endlose Staus und immer eine immense Verspätung. Viele Reisende erreichen ihr Endziel nicht am selben Tag und so bin ich gespannt, ob wir heute in unserem Domizil ankommen werden. Nach dieser Überlandfahrt, die neun Stunden dauern soll, fahren wir eine weitere Stunde mit einem lokalen Bus, um dann mit einem sogenannten „Willy“, einem Taxi-Jeep, die kleine Ziegenfarm anzusteuern, auf der wir wohnen werden. Glücklicherweise läuft im Bus nur die Klimaanlage auf Hochtouren und nicht die Musikanlage. Draußen hat es in etwa 15 Grad, also ist es absolut notwendig, alle Insassen tiefzukühlen. Das Rauschen ebendieser Anlage empfinde ich fast als wohltuend nach unseren Tagen in Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens.

Nachdem unsere Ausreise am Flughafen in Chile fast anderthalb Stunden in Anspruch genommen hat, sind wir überrascht, als wir nach einer Minute den Einreisestempel am Flughafen Bogotas erhalten. Genauso zügig und reibungslos bekommen wir unser Gepäck sowie ein Taxi, das uns nach „La Candelaria“ bringt. In diesem wunderschönen Altstadtviertel werden wir die nächsten vier Tage wohnen. In Kolumbien ist es um 20:00 Uhr stockdunkel. Wir haben mit diesem Flug einen ordentlichen „Sprung“ nach Norden gemacht und müssen uns an die neuen Gegebenheiten gewöhnen. Schon jetzt vermisse ich die langen, hellen Abende mit Tageslicht und Sonne bis 21:30 Uhr. Das Taxi holpert über grobes Kopfsteinpflaster in eine düstere Gasse hinein. Guido schaut mich fragend und etwas beunruhigt an: „Sind wir richtig? Das kann doch nicht sein, oder?“ Ich verfolge die Fahrt mit Google Maps und beruhige ihn: „Das passt, wir sind gleich da.“ Zwischen den kleinen bunten Häusern wurde ein moderner Apartmentkomplex errichtet, der rund um die Uhr von mehreren Securitymitarbeitern betreut wird. Wir müssen uns ausweisen und erhalten dann Zutritt zum Gebäude und somit auch zu unserer Wohnung. Jedes Mal „fremdele“ ich beim Ankommen, fühle mich zunächst unwohl und denke, dass ich hier nicht bleiben kann. So auch dieses Mal. Wir orientieren uns in der neuen Bleibe, freuen uns über viel Platz, eine gut ausgestattete Küche, ein Sofa und über zwei Badezimmer. Dann packen wir das Nötigste aus und gehen zu Bett. Alles andere hat Zeit bis morgen.

Es weihnachtet in unserem Apartmentkomplex

Und wieder faszinierende Murales

Immer wieder ist es spannend, bei Dunkelheit anzukommen und am nächsten Morgen die Umgebung bei Tageslicht zu sehen. Neugierig ziehe ich die Vorhänge zurück und schalte den Wasserkocher ein. Was für ein Luxus nach unserer Hütte in der Atacama-Wüste! Sogar eine Kaffeemaschine, einen Standmixer, einen Backofen und eine Mikrowelle gibt es. Wir sind sehr früh wach, da mit dem Flug nach Norden eine Zeitverschiebung von zwei Stunden einhergeht. Kurz nach sieben machen wir uns auf, um die Gegend zu erkunden. Wir haben den gestrigen Tag hauptsächlich im Sitzen verbracht, der Körper verlangt nach Bewegung. Bogota wird von den Kolumbianern liebevoll „La Nevera“ genannt – der Kühlschrank. Das Thermometer zeigt neun Grad, der Himmel ist grau. Nachts war es mir so kalt, dass ich meine Fleecejacke zum Schlafen überziehen musste. Wir befinden uns auf knapp 2.600 Metern über dem Meer und somit ist das Klima sehr gemäßigt. Der Dunst hängt in den umliegenden Hügeln, die Luft ist feucht – was für eine Wohltat für unsere Schleimhäute. Durch malerische Gassen mit vielen Murales und ebensoviel Müll geht es steil hinab Richtung „Plaza Bolivar“, dem Hauptplatz. Seit sechs Uhr rollt der Verkehr, viele Menschen sind unterwegs. Die Stadt hat einen schnelleren, lebendigeren, authentischeren Beat als Santiago de Chile. Wir finden ein kleines Bäckerei-Café und setzen uns hungrig an einen Tisch. Das Bestellen des Kaffees bereitet uns Schwierigkeiten. Zum einen verstehen wir das Spanisch der Kellnerin kaum, zum anderen lauten die Bezeichnungen der Getränke ganz anders als in Chile. Zum Glück ist es einfach, Rührei zu bestellen! Immer wieder bin ich dankbar, dass es auf der ganzen Welt Eier zum Frühstück gibt: Nahrhaft, gesund, sättigend, günstig. Für dreimal Rührei, vier Kaffee und ein süßes Teilchen bezahlen wir vier Euro! An die hiesigen „Dumping-Preise“ sowie an die neue Währung müssen wir uns erst gewöhnen.

Ganz Bogotá leuchtet

Bunte Gassen

Auf unserem Rückweg beobachten wir, wie fleißig der Müll weggeräumt und die Straßen gefegt werden. Neben einem hauseigenen Fitnessraum bietet unser Wohngebäude zwei Restaurants und einen Supermarkt, welchen wir als nächstes ansteuern. Auch hier überraschen uns die Preise: Zwölf Eier für einen Euro, ein Liter Milch für fünfzig Cent. Riesengroße Avocados und Bananen bekommt man fast geschenkt. Da macht das Einkaufen Freude! Der Vormittag wird dem Auspacken und der Wäsche gewidmet, bevor wir in die andere Richtung aufbrechen. Dieses Mal marschieren wir bergauf durch ein weniger schönes, etwas zwielichtiges Viertel und finden ein kleines Restaurant, das von einer herzlichen Familie geführt wird. Wir sitzen in einer Art Garage und die Mama erklärt uns das Menü, während draußen Regen einsetzt. „Heute gibt es zweierlei Suppe, da es so kalt ist. Außerdem Hähnchen, Rind, Schwein, Reis, Linsen, Kochbananen und Salat.“ Wir erhalten große Portionen inklusive „Jugos“ (frische Fruchtsäfte) und bezahlen am Ende sieben Euro. Gut gestärkt treffen wir Universe, unsere Führerin für den Nachmittag. Was für ein Name! Universe! Und genauso viel Energie hat sie – vor allem beim Reden. Obwohl wir mit den Fahrrädern durch Bogota flitzen, versorgt sie uns ohne Punkt und Komma mit Informationen. Mein Highlight ist der Besuch des „Fruit Market“. Hier dürfen wir unzählige exotische Früchte probieren, unter anderem vier verschiedene Sorten Maracuja, Tomatenfrüchte, Lulo und Guanabana. Früchte sind in Kolumbien allgegenwärtig – genauso wie Kaffee. Und so steuern wir als Nächstes ein kleines Café an, in dem sich eine Rösterei verbirgt. Universe erklärt uns, wo der Kaffee angebaut wird und wie der Produktionsprozess abläuft. Sie freut sich unheimlich, dass wir uns mit Kaffee auskennen und gute Qualität zu schätzen wissen. Mit vielen Locals sitzen wir anschließend in der gemütlichen Caféstube und genießen einen „Macchiato“. Die letzte Station unseres Ausflugs ist ein Atelier zweier Graffiti-Künstler. Wie spannend sind die Geschichten und Informationen zur Street Art, die in ganz Kolumbien eine große Rolle spielt. Nach einer ausführlichen Erklärung, wie ein Graffiti entsteht, dürfen wir selbst eines sprühen. Ich bin fasziniert. Vielleicht braucht Aalen eine Undercover-Graffiti-Künstlerin? Auf der Rückfahrt holt uns der Wahnsinn der Millionenmetropole ein: Es ist Rush Hour – ein wildes Durcheinander von Menschen, Autos, Hunden und Fahrrädern. Ich bin froh, als wir heil von den Bikes steigen und die Tour beendet ist.

Kiosk & Kneipe in einem

Unsere Ausbeute vom Markt

Während es Guido nochmals hinauszieht, spüre ich ganz deutlich, dass ich am Abend „zuhause“ bleiben möchte. Genügend Eindrücke habe ich heute gesammelt, der Reisetag gestern war anstrengend. Früher hätte ich vermutlich dieses Bedürfnis unterdrückt und wäre mit ihm ausgegangen. Heute kann ich ganz ruhig mitteilen, wie es mir geht und meine Entscheidung klar formulieren. Schnell flitze ich zum hauseigenen Supermarkt, kaufe mir eine Kleinigkeit zum Abendessen, lümmle mich auf das bequeme Sofa und gönne mir eine „early night“. Wie wunderbar ist es, wenn man seiner Intuition folgen kann! Beim Aufwachen spüre ich sofort, dass ich heute in die große Markthalle möchte, von der Universe gestern erzählt hat. Diese soll ein Paradies angefüllt mit Früchten, Gemüse, Käse, Fisch, Blumen und allerlei anderem sein. Unbändige Lust habe ich auf ein großes Früchte-Frühstück und so gehen wir „ganz traditionell“ am 24. Dezember morgens auf den Markt. „A la orden, a la orden“ schallt es aus allen Richtungen. „Zu Ihren Diensten, zu Ihren Diensten“ Gerne nehmen wir die Dienste in Anspruch, bis die Taschen so voll sind, dass wir sie kaum mehr tragen können. Weihnachten liegt in der Luft, ganz Bogota scheint für den Heiligabend und für den einzigen Feiertag am 25. Dezember einzukaufen. Wir haben bisher kaum europäische Touristen gesehen, mit meinen hellen Haaren falle ich unter den Einheimischen auf und vor allem kleine Kinder schauen mich mit großen Augen an. Zuhause breiten wir die ganze Fülle der Einkäufe auf dem Tisch aus – was für Farben, was für eine Vielfalt. Neugierig probieren wir uns durch die gekauften Vitaminbomben, bevor wir hinaustreten in die Sonne. Ein herrliches Wetter, um den Hausberg von Bogota, den Monserrate zu besteigen, auf dessen Gipfel eine Kirche trohnt. Leider bleibt uns der Zutritt verwehrt, da aufgrund von Weihnachten der Zugang zum Wanderweg heute bereits um 11:00 Uhr geschlossen wird.

Monserrate

Bunte Weihnachtskrippe

Kein Problem! Wir tauchen ein in den Wahnsinn auf der „Calle 7“, der Haupteinkaufsstraße von Bogota und bummeln anschließend durch die bunten Gassen von „La Candelaria“. Am frühen Abend gönnen wir uns ein hervorragendes „Weihnachtsessen“ in einem kleinen Restaurant, bevor für die nächsten anderthalb Tage alles schließen wird. Danach bestaunen wir die Illuminationen auf dem „Plaza Bolivar“. Beleuchtung und Musik sind die großen Themen zur Weihnachtszeit in Kolumbien. Meterhohe, beleuchtete und mit Musik untermalte Figuren erstrahlen auf dem weitläufigen Platz, kolumbianische Familien gekleidet in Weihnachts-Pullovern posieren davor für ein Erinnerungsfoto, Zuckerwatte und Punsch sind die Verkaufsschlager in Sachen Kulinarik. Auf dem Nachhauseweg ertönt an jeder Ecke beschwingte, lateinamerikanische Weihnachtsmusik. Diese kommt nicht etwa aus einem Café, Restaurant oder Club, sondern meistens aus einem unscheinbaren Hauseingang. Noch ahnen wir nicht, dass uns diese Musik durch die Nacht hindurch in den ersten Weihnachtsfeiertag begleiten wird. Zuhause angekommen registrieren wir, dass die „Nachbarn“ auf der anderen Straßenseite eine kleine Fiesta mit Musik anzetteln. Müde von den Erlebnissen des Tages wiegt mich die Musik in den Schlaf, bis ich um Mitternacht von Böllergeräuschen aus eben diesem gerissen werde. Was in der nächsten Stunde abgeht erinnert mehr an Silvester als an Weihnachten. Es knallt in einer unerträglichen Intensität, bunte Farben am Himmel sind nicht zu sehen. Kaum lässt das Böllern nach, wird die Lautstärke der Musik vervielfacht. Die ganze Nacht und am nächsten Morgen geht es rund. Mit unseren Kaffeetassen und offenen Mündern verfolgen wir das „Frühstücksfernsehen“. Auf der Straße qualmt und raucht es, kniehoch türmen sich die Überreste der Knallerei auf. Deutlich betrunken tanzen ein paar Leute auf dem Asphalt, einer zieht das Hemd aus und zettelt eine Schlägerei an. Die anwesende Oma geht mit ihrem Stock dazwischen und es dauert nicht lange, bis die Polizei erscheint und versucht, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Doch so leicht sind die Feierwütigen nicht zu bremsen. Erst als ein Mannschaftswagen anrückt löst sich die Versammlung ganz langsam auf. Kein Wunder, dass am 25. Dezember Alles geschlossen ist in Bogota!

Geöffnet sind die Kirchen und somit auch der Monserrate. Heute dürfen wir die 1.500 Stufen und etwa 450 Höhenmeter überwinden, um den Feiertag mit einem Kirchenbesuch auf über 3.000 Meter Höhe zu begehen. Die Steigung ist enorm, wir schnaufen und schwitzen – unglaublich! Gemeinsam mit vielen kolumbianischen Familien pilgern wir hinauf und können es kaum fassen, als wir oben angekommen die Neun-Millionen-Stadt überblicken. Was für eine Dimension! In der Sonne lassen wir uns trocknen und wundern uns, wie beschwingt der Pfarrer die Messe eröffnet. Während bei uns Kirchen oft düster und schwer wirken, strahlen sie hier Leichtigkeit und Freude aus. Die Türen bleiben während der Messe geöffnet, Menschen gehen ein und aus, blinkende Lichterketten schmücken den Altar. Nach einiger Zeit steigen wir die Stufen wieder hinab, was nicht weniger anstrengend ist als der Aufstieg und finden in unserem hübschen Viertel tatsächlich ein Café, dessen Baristas uns mit offenen Armen empfangen. Immer wieder überrascht uns die unglaubliche Freundlichkeit der Menschen hier. Der Nachmittag verläuft ruhig, obwohl von der anderen Straßenseite immer noch Musik zu uns herüberschallt. Guido hat eine leichte Magenverstimmung, ich nutze den Fitnessraum, gegen Abend flanieren wir noch ein bisschen und packen anschließend die Rucksäcke für die Weiterreise. Am Vorabend haben wir eine Dokumentation über die „dunklen Seiten“ Bogotas angeschaut – über die Bezirke, in die sich ein Tourist besser nicht verirrt. Armut, Drogenprobleme, Müllberge, Prostitution – all das ist für uns nur ansatzweise sichtbar: Der Mann, der sich selbst und seine Kleider im kleinen Bachlauf wäscht. Der irre Blick der Drogenabhängigen, die nach leeren Dosen und Flaschen suchen. Menschen, die auf dem Grünstreifen zwischen zwei Fahrbahnen schlafen, ihr Hab und Gut in einer Tüte verstaut.

Endlose Millionenstadt

Ein Haus hübscher als das andere

Die letzte Nacht in Bogota ist wirklich eine „stille Nacht“. Keine Musik, kein Verkehr – schon fast unheimlich wirkt es. Alle sind erschöpft vom Feiern und bereiten sich auf die Arbeit am kommenden Tag vor. Für uns heißt es am nächsten Morgen Abschied nehmen. Noch einmal schauen wir beim Kaffeetrinken der Frau auf der anderen Straßenseite zu, die heute wieder die vorbeifahrenden Autos und ihre Insassen segnet. Mir geht durch den Kopf, dass ich nichts über sie weiß. Ich sehe sie nur, beobachte sie. Was mag ihre Motivation sein, was für ein Leben führt sie? Neun Millionen Menschen in dieser Stadt – und jeder davon lebt sein Leben, hat seine Sorgen, strebt nach Glück und Freude – was auch immer das für den Einzelnen bedeuten mag. Ich bin gespannt, was wir in diesem Land erfahren und erleben werden. Noch fehlt uns das Gefühl für die Menschen, für ihre Mentalität, für ihren Lebensstil. Wir sind noch nicht richtig angekommen. Nur eines weiß ich bereits jetzt: Die Uhren ticken anders. Seit zehn Stunden sind wir mit dem ersten Bus unterwegs und noch lange nicht am Ziel…

Wie waren Deine Weihnachtstage? Eher still und besinnlich? Oder laut und lebendig? Gibt es Traditionen, die für Dich an Weihnachten wichtig sind? Hast Du das Fest schon einmal in einem anderen Land, in einem anderen Kulturkreis gefeiert?