Chillen in Chilé
… oder Alltag beim Reisen
Aktuelle Position: La Serena, ca. 400 km nördlich von Santiago de Chilé
Ich spüre, wie meine Augen immer größer, immer runder werden vor lauter Staunen. Guido hat den Gesichtsausdruck eines Zweijährigen, der gerade die Welt entdeckt. Wir sind im Costanera Center, der größten Mall Südamerikas und schlendern durch den Supermarkt „Jumbo“, der seinem Namen alle Ehre macht. Größer könnte der Kontrast nicht sein: Gestern noch am Ende der Welt, heute mitten in der Millionenmetropole Santiago. Gestern waren Eier, Hähnchen und ein Apfel kulinarische Highlights, heute können wir Lebkuchen von Lambertz kaufen („Die drei Gaben“) und aus etwa 40 verschiedenen Sorten Schinken wählen.
Fünfzehn endlos lange Stunden sind wir von El Chaltén nach Santiago de Chilé unterwegs. Unser Stop-Over Flughafen in Buenos Aires ist ein lärmender, überfüllter Moloch. Massen von brasilianischen Fußballfans sind unterwegs, die das Finale der südamerikanischen „Champions League“ besucht haben. Kraftlos und erschöpft kommen wir gegen Mitternacht in unserem Hotel am Stadtrand von Santiago de Chilé an. Auf den ersten Blick bin ich enttäuscht: Sowohl das Zimmer als auch der Empfangsbereich des Hotels sind nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bislang haben wir in gemütlichen, individuell gestalteten AirBnB-Unterkünften gewohnt. Die Nüchternheit des Stadthotels ist gewöhnungsbedürftig. Nach einer unruhigen Nacht und einem großen Frühstück sind wir bereit für eine erste Erkundungstour. Wir wohnen nicht nur in der Nähe des Costanera Centers, sondern auch direkt am größten Naherholungsgebiet der Metropole. Fast wie zuhause sehen die Wohnviertel in dieser Gegend aus, uns begegnen viele Radfahrer und Jogger. Nach einer Weile wandelt sich das Bild: Die Häuser erstrahlen in bunten Farben, sind verziert mit wundervollen Wandbildern, den „Murales“ und beherbergen kleine Cafés, Kneipen und Restaurants. Das historische Zentrum Santiagos wartet mit prunkvollen, historischen Gebäuden neben beeindruckenden Hochhäusern auf. Was für eine vielseitige Stadt!
Ich genieße es, in den Shorts unterwegs zu sein und sauge die neuen Eindrücke in mich auf. Alles, was bunt ist, liebe ich! Ich tauche ein in die Wandbilder, die blühenden Büsche und Bäume, empfange die wärmenden Sonnenstrahlen und spüre, wie trotz Müdigkeit Energie und Freude durch mich hindurchströmen. Fast schon euphorisch werde ich, als wir die Markthalle erreichen. Hier in Chilé ist Frühsommer und eine überwältigende Fülle an frischem Obst und Gemüse türmt sich an den Ständen der Händler auf: Das Kilo Herzkirschen für einen Euro, Erdbeeren, Mangos, Papayas zu Schleuderpreisen, fremdartige Gemüsesorten, die meine Neugier wecken. Trotz einem reichhaltigen Frühstück meldet sich der Hunger und wir kehren in ein farbenfrohes Restaurant zum Mittagstisch ein. Für umgerechnet acht Euro serviert uns die herzliche Kellnerin als Vorspeise eine Céviche, danach Lachsfilet mit Garnelen-Zitronen-Soße, ein Maracuja-Mousse und zwei große, kalte Cokes. Wir können es kaum fassen! Mit unserem Hotel bin ich ausgesöhnt, als wir uns am Nachmittag auf der Rooftop-Terrasse niederlassen. Ein kleiner Pool mit erfrischendem Wasser sowie ein Jacuzzi stehen zur Verfügung. Nachts kühlt es hier auf angenehme 12 Grad ab, während die Temperaturen tagsüber etwa 25 Grad erreichen. Faulenzend und schwimmend vertrödeln wir ein paar Stunden, bevor wir uns auf den Weg in die Mall machen. Wie bereits beschrieben können wir das Überangebot und die Dimensionen kaum verarbeiten. Schnell wird uns alles zuviel: Die Menschenmassen, die laute Weihnachtsmusik, die optischen Eindrücke. Wir kaufen Zutaten für ein kleines Vesper und flüchten in die ruhige Idylle unserer Dachterrasse.
Fünf Nächte verbringen wir in Santiago mit dem Ziel, uns auszuruhen und ein paar Dinge zu erledigen. Allzu viel unternehmen wollen wir nicht, sondern den Fokus auf Regeneration und Entspannung legen. Zum Alltag beim Langzeitreisen gehört auch die weitere Reiseplanung, die viel Zeit in Anspruch nimmt. Vor unserem Abflug aus Deutschland hatten wir die Fixpunkte bis Santiago geplant, ab dem 06. Dezember war alles Weitere offen. Bereits in Patagonien wurde uns klar, dass wir den Norden Chilés erkunden möchten und wir haben zwei Stationen dort festgelegt. Kurz vor Weihnachten beginnen in Südamerika die Sommerferien und somit die Hauptreisezeit. Daher ist es notwendig, dass wir vorausplanen und prüfen, ob Flüge, Unterkünfte sowie Aktivitäten verfügbar und vor allem bezahlbar sind. Immer wieder stellen wir uns die Frage: Was möchten wir sehen? Was erleben? Wo liegt unser Fokus? Dabei sind wir nicht unbedingt einer Meinung. Guido zieht es in die Anden, er möchte das ursprüngliche Südamerika kennenlernen und begeistert sich für Bolivien. Ich lese von schlechten hygienischen Bedingungen, politischen Unruhen sowie Korruption und spüre, dass ich dort keinesfalls hin möchte. Für mich soll die Reise entspannt sein, ich will auf jeden Fall gesund bleiben und mich so sicher wie möglich fühlen. Außerdem fehlt mir mehr und mehr der Austausch mit anderen Menschen. Gespräche mit anderen Reisenden sind meist oberflächlich und kurz. Alle sind auf dem Sprung, auf der Durchreise und mit sich selbst beschäftigt. Die Locals sind unheimlich freundlich, sprechen aber so wenig Englisch wie ich Spanisch. Gute Erfahrungen habe ich weltweit in Retreat-Centern oder Ashrams gemacht: Hier wird Gemeinschaft gelebt, man trifft interessante Menschen, kann seine eigene spirituelle Praxis vertiefen und zeitgleich die nähere Umgebung erkunden und kennenlernen. Und so beginne ich zu recherchieren…
Ein dickes Paket mit fast unbenutzter Winterkleidung macht sich auf die Reise nach Deutschland. Ein paar Stunden verbringt Guido mit dieser Mission auf der Hauptpost, um am Ende 90 Euro zu bezahlen und den Hinweis zu bekommen, dass die Sendung vermutlich verloren gehen wird. Wir fahren ziellos mit geliehenen Hollandrädern durch die Straßen und freuen uns über alles, was wir entdecken. Gleichzeitig erschlägt uns immer wieder der Lärm der Großstadt. Beim Warten an der Fußgängerampel steht man innerhalb von Sekunden in einer Menschenmenge, die mich an die Reichstädter Tage erinnert. Mehrmals werde ich darauf hingewiesen, dass ich meinen kleinen Rucksack nach vorne nehmen und mein Handy wegpacken soll. Obwohl es nicht so scheint, sei die Gegend gefährlich und überall Taschendiebe unterwegs. Wir schlafen schlecht – ich spüre den unruhigen Puls der Metropole, die Tag und Nacht brodelnde Energie. Obwohl wir von der Dame, die das Rooftop betreut, den Jacuzzi einlässt und nach jeder Benutzung hingebungsvoll schrubbt, liebevoll umsorgt werden, freuen wir uns auf die Weiterreise. Am letzten Tag liegen nach einer fast schlaflosen Nacht meine Nerven blank, der bedeckte Himmel passt zu meiner Stimmung. Ich teile Guido mit, dass ich heute Zeit für mich alleine brauche. Er kennt mich, er akzeptiert und respektiert das. Und ist vermutlich ganz froh, da auch er gerne „Me-Time“ in Anspruch nimmt und ich heute keine angenehme Gesellschaft bin. Ich sehne mich nach einer Massage und finde durch Zufall ein Angebot in der Nähe, welches meine Erwartungen weit übertrifft. Danach stärke ich mich mit einem wunderbaren Mittagessen und bummle dann ganz für mich noch etwas durch die Mall, ohne warten oder Rücksicht nehmen zu müssen. Als ich am späten Nachmittag am Pool eintreffe ist Guido bereits da und wir lassen den Tag friedlich ausklingen.
Heute – am Nikolaustag – sind wir seit einem Monat unterwegs. Wir haben die Option, vier weitere Monate zu reisen. Akutes Heimweh verspüre ich nicht. Fast erschreckend ist es, wie wenig ich unsere Wohnung und materielle Gegenstände vermisse. Am Meisten fehlen mir vertraute Menschen und mein Yogaunterricht. Obwohl wir bis dato in keinem „Billig-Reiseland“ unterwegs waren, benötigen wir nicht mehr Geld als zuhause. Wir bestellen nichts im Internet, schauen uns beim Einkaufen von Lebensmitteln aus reiner Neugierde die Preise bewusst an und können weder Souvenirs noch Kleidung kaufen, da unser Gepäck „schlank“ bleiben muss. Wie viel Zeit die Reiseplanung und das dazugehörige Recherchieren in Anspruch nehmen überrascht mich. Heutzutage wird alles online abgewickelt. Die Möglichkeiten sind unermesslich groß und ständig müssen Entscheidungen getroffen werden: Reisen wir per Bus, Mietwagen oder Flugzeug? Wo schlafen wir? Eintrittskarten oder Touren müssen gebucht, Einreisebestimmungen und regionale Besonderheiten geprüft werden. Auch wenn wir uns das manches Mal wünschen würden oder es gerne so salopp formuliert wird: Lass Dich treiben! Es ist kaum möglich. Nicht einmal eine Busfahrkarte kann man beim Fahrer kaufen – alles bitte online und ein paar Tage im Voraus. Weihnachten werden wir nicht in Chilé verbringen. Der Flug ist gebucht, es geht Richtung Norden.
Bist Du jemand, der viel plant und recherchiert? Wie geht es Dir mit der Energie von großen Städten? Magst Du den Trubel, die Unruhe und die Vielfalt? Oder bevorzugst Du die ruhigen Ecken unserer Welt? Nimmst Du Dir – wenn es notwendig ist – Zeit für Dich? Kannst Du diesen Wunsch nach „Me-Time“ klar zum Ausdruck bringen und Dir dann das zugute kommen lassen, was Dich unterstützt?