Adelante
… oder die Ausdauer der Kolumbianer
Aktuelle Position: Workspace in unserem kleinen Hotel in Medellin, Kolumbien
Wir kommen an. Vier Stunden später als geplant. Orientierungslos stehen wir im Busbahnhof von Armenia und sortieren uns erst einmal innerlich. Der letzte Bus nach Filandia ist schon lange weg. Mit einem Uber erreichen wir schließlich gegen 21:00 Uhr die Plaza von eben diesem Ort. Zum Glück sind sowohl Uber- als auch Taxifahrten in Kolumbien absolut bezahlbar, das Fahren mit dem öffentlichen Bus fast kostenlos. Wir wissen, dass wir in Filandia einen sogenannten „Willy“, einen Jeep chartern müssen, der uns auf die kleine Ziegenfarm irgendwo im Nirgendwo bringt. Es regnet, es ist dunkel und es ist kein „Willy“ in Sicht. Erneutes Innehalten und Sortieren unsererseits. Schließlich umrunden wir im Regen die Plaza und entdecken zwei Jeeps. Die Männer haben noch nie von der Ziegenfarm gehört, schauen sich aber sofort den Standort auf Google Maps an und führen sogar ein Telefonat, um sicherzustellen, dass es sich um die richtige Location handelt. Dann heißt es „aufsitzen“ und ab geht der „Willy“ durch die Nacht. „Adelante!“ Wir holpern über unbefestigte Wege und Pisten, durch riesengroße Schlammlöcher und Pfützen. Schließlich erreichen wir ein großes Tor, an dem Elena und ihr Mann Gilberto schon nach uns Ausschau halten. Wir sind heilfroh, endlich anzukommen. Elena begrüßt uns herzlich, führt uns in unsere Bleibe – eine kleine Holzhütte, die neben ihrem eigenen Wohnhaus steht und bietet uns einen Kaffee an. Zuerst lehnen wir dankend ab, aber schnell ist klar, dass dies nicht akzeptiert wird. Es ist schließlich ihr eigener Kaffee, den sie neben vielen anderen Dingen hier auf der Finca anbauen und verarbeiten. So gibt es heute als Schlummertrunk einen Kaffee mit viel Panela (Rohrzucker)!
Nach einer kalten und kurzen Nacht genieße ich die frische Morgenluft und den sensationellen Blick von unserer Veranda. Soweit das Auge blickt nichts als üppige, grüne Vegetation. Schon gestern auf der Fahrt hat uns die hügelige Landschaft fasziniert. Nebelschwaden steigen auf und ich sehe Gilberto, wie er in seinen Gummistiefeln zum Ziegenstall hinabgeht. Ich seufze. Das Frühstück wird mager ausfallen. Wir haben nur noch Kaffee in unserem Proviant und Elena hat uns liebenswürdigerweise frische Ziegenmilch in den Kühlschrank gestellt. So regelmäßig und getaktet mein (Essens-)Rhythmus zuhause ist, so wirr und flexibel ist er bzw. muss er auf dieser Reise sein. Heute wird uns Elena ihre kleine Finca zeigen. Und davor – wie sensationell ist das – lädt sie uns zum Frühstück ein. Ich seufze wieder. Dieses Mal aber aus einer tiefen Zufriedenheit heraus. Wie wunderbar, dass sich immer wieder alles fügt. Hervorragend schmeckt die Kombination aus Rührei, Ziegenkäse und Platano (Kochbanane). Dazu gibt es Chai mit viel Panela. Alles stammt von der Finca, wird von den beiden angebaut und verarbeitet, sozusagen „Kilometer Zero“ und Bio. Im Anschluss kraxeln wir drei Stunden über das hügelige Gelände der Finca, besuchen die Ziegen, lernen jede einzelne Pflanze kennen und probieren mehr als zehn verschiedene Früchte frisch vom Baum. Nicht nur meine Socken qualmen nach der Tour, sondern auch mein Kopf. Elena spricht ausschließlich Spanisch und ich bemühe mich, alles zu verstehen und auch zu antworten. Schon wieder meldet sich der Hunger und wir machen uns auf den Weg ins Zentrum. Dort genießen wir ein spätes Mittagessen und schauen uns das kleine Örtchen an. Viel zu viele Menschen sind unterwegs, ein Ramschladen mit Souvenirs grenzt an den nächsten. Wir sind etwas enttäuscht, finden aber zum Glück ein kleines Café, in welchem uns der Barista eine regelrechte Kaffeezeremonie zugute kommen lässt. Danach flüchten wir zurück auf unsere „kleine Farm“ und erleben mit, wie Gilberto die zuvor sonnengetrockneten Kaffeebohnen über dem offenen Feuer röstet. Noch lange sitzen wir zu viert auf der Veranda und unterhalten uns über Gott und die Welt. Obwohl die beiden hier in ihrem kleinen, abgelegenen Paradies leben, sind sie sehr gebildet und wissen viel zu berichten. Regelmäßig nehmen sie Gäste aus aller Welt bei sich auf. Ich finde das Konzept wunderbar und denke daran, wie eigenbrötlerisch und engstirnig wir Schwaben häufig sind.
Seit wir Bogota verlassen haben, begleitet uns der Regen. Die Luftfeuchtigkeit ist extrem hoch, alles ist klamm. Es gießt wie aus Kübeln, als wir unsere nächste Destination – Salento – erreichen. Dieser Ort soll – wie Filandia – ein beschauliches, traditionelles Örtchen sein. Umgeben von weitläufigen Tälern, die eine einzigartige Kulisse aufgrund der unzähligen Wachspalmen bieten, zieht es Reisende aus Nah und Fern an. Vielleicht liegt es an der Weihnachtszeit, vielleicht hat sich in den letzten Jahren viel verändert: Menschenmassen schieben sich durch die Gassen, alles wirkt unnatürlich und kitschig. Wir sind hier wegen einem kleinen Abenteuer: Es soll eine spannende Downhill-Tour durch eines der Täler geben. Knapp 40 Kilometer geht es auf Singlespeed-Bikes bergab. Ein Jeep shuttelt uns durch dichten Nebel hinauf auf über 3.000 Meter. Die Sonne blitzt hervor, während wir die Integralhelme und Ponchos überziehen. Durch Schlamm und Morast geht es die ersten 17 Kilometer bergab. Zu Fuß setzen wir die Tour fort zu einem Wasserfall. Unsere Mitstreiter, eine Gruppe junger Holländer, die alle halb so alt sind wie wir, stürzen sich übermutig ins eiskalte Wasser. Instagram muss schließlich mit spektakulären Bildern versorgt werden. Spaß haben sie keinen. Als wir uns für den zweiten Teil der Abfahrt bereit machen, beginnt es zu schütten. 23 Kilometer liegen vor uns. Aus der Piste wird ein Wildbach, das Wasser läuft von oben in die Schuhe, der Matsch spritzt bis ins Gesicht. Volle Konzentration ist gefordert. Trotz der widrigen Verhältnisse genieße ich die Fahrt. Es ist ein Abenteuer, eine Herausforderung, ein kleiner Schritt aus meiner Komfortzone heraus. „Adelante – vorwärts!“ Seit einigen Tagen ist dies mein spanisches Lieblingswort. Von Kopf bis Fuß „eingesaut“ schleichen wir uns an der Rezeption unseres Hotels vorbei und stellen uns – wie wir sind – unter die Dusche. Zum Glück gibt’s im Haus einen Laundry-Service, genügend heißes Wasser und um die Ecke ein kleines Restaurant, das frische Grillhähnchen anbietet.
Mit Sabine und Jörg aus Köln, einer deutschen Großfamilie, zwei US-Amerikanern und einem italienischen Paar sitzen wir beim Abendessen auf der Finca Mirador Morrogacho am Tisch. Lebendige Gespräche entstehen, Tipps und Anekdoten werden ausgetauscht, zahlreiche Sprachen klingen durcheinander. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel Gesellschaft zu haben, freue mich aber unheimlich darüber, endlich mal wieder auf Deutsch kommunizieren zu können. Das nach wie vor sehr instabile und regnerische Wetter lässt keine allzu großen Aktivitäten zu und so kommt mir der Fitness- und Yogaraum auf der Finca sehr gelegen. Als ich am Neujahrsmorgen gegen sieben Uhr aufstehe, wird auf den angrenzenden Anwesen noch fröhlich gefeiert. Ein wilder Mix aus lateinamerikanischer Musik und der Duft nach Essen lässt ahnen, dass noch lange kein Ende in Sicht ist. Ich habe kein Gefühl für den Jahreswechsel. Unsere Reise ist wie eine „Time-Bubble“ für mich, eine in sich abgeschlossene Zeitspanne. Für mich beginnt etwas Neues, wenn wir nach Hause zurückkehren. Als wir gegen 10:00 Uhr zu einer Wanderung aufbrechen, tanzen Menschen auf der Straße. Wiederholt bewundere ich die Ausdauer der Kolumbianer: Eine Mischung aus Geduld und Beharrlichkeit, immer gepaart mit Musik und einem entspannten Lächeln im Gesicht. Am Spätnachmittag kehren wir von unserem Ausflug zurück und werden erneut Zeugen dieser kolumbianischen Eigenschaft: Neben unserer in den Steilhang gebauten Finca verläuft eine kleine Straße bergab bis ins tiefe Tal. Fehlender Asphalt, tiefe Schlaglöcher und 30 Prozent Steigung sorgen dafür, dass ein kleiner Lieferwagen hängenbleibt und auch der Jeep, der ihn abschleppen soll, kommt nicht weiter. Unermüdlich arbeitet eine Gruppe Männer bis in die Nacht hinein, um beide Fahrzeuge nach oben zu bringen. Es wird geschoben, gezogen, unterlegt, geschaufelt und sogar die Straße ausgebessert. Alles ohne (An-)Klagen, ohne Murren, ohne Gezeter – dafür mit vielen gemeinsamen Motivationsrufen, Musik und guter Laune!
Wir beweisen Ausdauer in Sachen Kaffee: Nach einer exklusiven Kaffeetour bei Elenas Freund Elmar, bei der wir unseren eigenen Kaffee produzieren und anschließend mitnehmen dürfen, besuchen wir einen Barista-Workshop. Die meisten Menschen in Deutschland drücken vermutlich morgens das Knöpfchen an ihrem Vollautomaten, trinken die dunkle Flüssigkeit und wissen kaum etwas über den Herstellungs- und Zubereitungsprozess. Das behaupte ich jetzt einfach mal! Wir haben in Kolumbien den „Café Natural“ für uns entdeckt – ein fermentierter Kaffee, der fruchtig und elegant schmeckt, keine Säure und kaum Bitterkeit aufweist. Kannst Du beschreiben, wie Dein Kaffee schmeckt? Kaffee ist mindestens so komplex wie Wein, der Aufwand beim Anbau und der Produktion durchaus mit Spargel vergleichbar. Verschiedene Komponenten wie zum Beispiel der Mahlgrad, die Wassertemperatur und die Extraktionszeit entscheiden darüber, wie das Ergebnis schmeckt – ebenso die Zubereitungsart und das Ausgangsprodukt. In Europa wird Kaffee zu stark geröstet, um die oft mangelhafte Qualität zu kompensieren. Die starke Röstung gaukelt dem Gaumen zunächst einen intensiven Geschmack vor, der danach schal und fad im Mund zurückbleibt. Warum begegnet uns in Europa Kaffee in schlechter Qualität? Weil kaum jemand bereit ist, einen adäquaten Preis zu bezahlen. Wir lernen bei diesem – wieder für uns exklusiven – Workshop unheimlich viel und ich spüre, wie mein Herz dabei aufgeht. Zu gerne möchte ich die kolumbianische Kaffeekultur nach Deutschland bringen. Schon lange träume ich von einem kleinen Yogastudio kombiniert mit einem Café oder Bistro. Vielleicht ist das ein Projekt für das neue Jahr?
„Kolumbien ist ein reiches Land – die Natur und ihre Gaben, Bodenschätze, Musik und Kultur.“ Ich kann – nein, ich muss – den Worten unseres Guides, der uns auf der anspruchsvollen Wanderung zu den sieben Wasserfällen begleitet, zu 100 Prozent zustimmen. Er ist nicht nur Wanderführer, sondern auch Barista und Farmer. Gesund und kräftig wirkt er mit seinen über sechzig Jahren, lebendig und gebildet. Seine Augen leuchten, als er uns voller Stolz nach der Tour in sein Lieblingscafé an der Plaza einlädt. Die beeindruckenden Wasserfälle und die fruchtbare Landschaft, in die sie eingebettet sind, zeugen von der Vielfalt Kolumbiens. „Adelante – vorwärts!“ Unser zweiter Guide war bei den Marines und so gleicht die Wanderung einem kleinen Bootcamp. Zügig überwinden wir unzählige Höhenmeter, seilen uns ab, klettern hinauf, waten durch Flüsse und freuen uns, dass wir bereits Müllsäcke für den Transport der eingesauten Klamotten besorgt haben. Wir sind angekommen in diesem Land! Die Menschen haben mit ihrer Offenheit und Freundlichkeit unsere Herzen erobert. Die allgegenwärtige Musik vermittelt Leichtigkeit und Freude. Die Natur ist ein großer Abenteuerspielplatz für uns. Wir sitzen abends unter den Einheimischen auf der Plaza in Jardin und essen Hähnchenspieße sowie frisch geschnittene Früchte, welche an kleinen Ständen für ein paar Cent verkauft werden. Als wir in der Bar einen Absacker nehmen, werden wir sofort zu Empanadas eingeladen und ich staune wieder, dass die älteren Männer bereits am frühen Abend aus purer Lebensfreude zu tanzen beginnen. Mit Sabine und Jörg verbringen wir schöne Tage auf dem idyllisch gelegenen Glamping, erkunden die Gegend, fahren Tuktuk, genießen die melodischen Gesänge exotischer Vögel in der Dämmerung und lassen die Tage mit anderen Reisenden im behaglichen „Social Club“ – dem Gemeinschaftsbereich des Glampings – ausklingen. Die Nächte im Zelt sind wunderbar. So gerne schlafe ich an der frischen Luft, höre das Rauschen der Bananenblätter und das Plätschern des Regens, welcher uns immer noch verfolgt.
„Adelante!“ Für uns geht es weiter. Ausgiebig sind wir eingetaucht in die „Zona Cafetera“. Seit zwei Monaten sind wir nun unterwegs. Nach einem kurzen Stopp in Medellin wartet eine andere Region Kolumbiens auf uns. Ich bin gespannt, ob sich die Realität so traumhaft darstellt wie sie sich anhört. Wir bleiben jedenfalls dran!
Im Yoga ist das Äquivalent zu „Adelante“ Tapas: Ausdauer zeigen, an etwas Dranbleiben, Geduld beweisen. Gelingt Dir das? Welche innere Haltung hast Du dabei? Vor allem, wenn es mal zäh, mal unangenehm wird? Ich wollte die Wanderung zu den Wasserfällen absagen. Das Wetter war schlecht, ich nicht gut gelaunt, die Bedingungen alles andere als optimal. Aber ich bin dran geblieben, bin mit einem Lachen durch den Fluss gewatet und in die Pfützen gesprungen. Es hat sich gelohnt: Tolle Menschen, gute Gespräche, tanzende Hormone, danach tiefe Zufriedenheit, seliger Schlaf. Die brennenden Oberschenkel und schmutzigen Klamotten sind übermorgen vergessen. Was für immer bleibt, ist das Erlebnis, die Erfahrung, die Erinnerung.